1989/90 in der Schweiz: «Etwas mehr Fragemut in diesem bangen Land»

Nr. 47 –

Vom Fichenskandal und der Armeeabstimmung weiter zur 700-Jahr-Feier und zum Kulturboykott: Im weltpolitischen Umbruch verdichteten sich die Deutungskämpfe um das nationale Selbstbild, schreibt die Historikerin Dorothee Liehr.


Herbst 1989: Gespannt verfolgt die Weltöffentlichkeit, was sich in den Staaten des Ostblocks ereignet. Ein weltpolitischer Umbruch historischen Ausmasses steht kurz bevor.

In jenen spannungsgeladenen Monaten herrscht auch in der Schweizer Öffentlichkeit Aufbruchstimmung. Am Ende des Kalten Krieges wird die politische Streitkultur, insbesondere in der Deutschschweiz, schärfer. Denn seit etwa Mitte Jahr steht die Schweizer Armee als Nationalsymbol auf dem Prüfstand, ihre Leistung in der Vergangenheit ebenso wie ihr gesellschaftlicher Nutzen in Gegenwart und Zukunft. Am 26. November soll es, nachdem die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) 1986 eine Armeeabschaffungsinitiative lancierte, zur Abstimmung kommen.

Da sich im selben Jahr der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum fünfzigsten Mal jährt, plant das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) Jubiläumsfeiern, die vonseiten der ArmeegegnerInnen als anstössige Nationalisierung der Weltkriegskatastrophe und mithin als provokative Abstimmungspropaganda gebrandmarkt werden. Doch, so die offizielle Verlautbarung aus dem EMD, bei der sogenannten Übung «Diamant» gehe es allein darum, die damalige «Aktivdienstgeneration» zu würdigen sowie der bedrohlichen Zeit «nationalen Zusammenhalts und schweizerischer Selbstbehauptung» zu gedenken. Letztere aber deklarieren die ArmeegegnerInnen als Mythos, sie deklassieren sie als «billigen Klunker».

Bezug nehmend auf jüngste historische Erkenntnisse, demontieren sie die im kollektiven Gedächtnis der Nachkriegsschweiz verankerte «Widerstandslegende» von der Armee als «Retterin der Nation». Die damalige militärische Wehrfähigkeit der Eidgenossenschaft, so ihre These, habe bei weitem nicht ausgereicht, um die Schweiz vor einer in jener Zeit möglichen Invasion der Deutschen zu schützen. Und dass das Land nicht besetzt worden sei, lasse sich plausibler auf die aussenwirtschaftliche Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, insbesondere auf ihre Finanzgeschäfte und industriellen Kooperationen mit Nazideutschland, zurückführen, keinesfalls jedoch auf eine potenzielle militärische Abschreckung. 1989 keineswegs konsensfähig und in zahlreichen Presseartikeln sowie Extrabroschüren verbreitet, kommen solche Aussagen Tabubrüchen gleich, die das politische Klima zwischen bürgerlich-konservativen Stimmen und eher links orientierten, progressiv Gesinnten verschärfen.

Kollektive Intervention

Die Deutungskämpfe um die Armee werden im Vorfeld der Abstimmung wochenlang und schweizweit an Podiumsdiskussionen, Vortragsveranstaltungen und in Buchveröffentlichungen ausgetragen. Mit enormem Widerhall greift etwa der Schriftsteller Max Frisch – am Ende seines Lebens und schwer erkrankt – noch einmal als kritischer Intellektueller in die öffentliche Debatte ein. Sein letztes Werk «Für eine Schweiz ohne Armee? Ein Palaver» stellt nicht nur die Armee infrage, sondern kann insgesamt als Schweizkritik gelesen werden. Künstlerisch fortgeführt vom Regisseur Benno Besson (Theaterinszenierung), dem Maler Gottfried Honegger (GSoA-Plakat) sowie dem Filmemacher Alexander Seiler (Dokumentarfilm zum Schweizer Herbst 1989), wird der literarische Text Frischs im Sinne einer kollektiven Intervention monatelang öffentlich diskutiert. Er erfüllt also den ihm vom Autor zugedachten Zweck, «etwas mehr Fragemut in diesem bangen Land» zu provozieren.

Zwei Tage vor der entsprechend umkämpften Abstimmung über die Abschaffung der Schweizer Armee, am 24. November 1989, erscheint dann der Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK), die zehn Monate lang die Hintergründe des Rücktritts der Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), Bundesrätin Elisabeth Kopp, ergründet hatte. Während es zum Fall Kopp keine spektakulären Ergebnisse – etwa hinsichtlich einer ihr unterstellten Amtsgeheimnisverletzung oder einer Verbindung zum Milieu des organisierten Verbrechens – zu vermelden gibt, verlagert sich das öffentliche Interesse bereits während der Bundespressekonferenz auf einen anderen von der PUK aufgedeckten, den präventiven Staatsschutz betreffenden Sachverhalt: die sogenannten Fichen.

Die Recherchen in der Bundesanwaltschaft hatten ergeben, dass die politische Polizei von zirka 900 000 in der Schweiz lebenden Personen – AusländerInnen, vornehmlich linkspolitisch gesinnten SchweizerInnen sowie Mitgliedern sozialer und politischer Organisationen – jahrzehntelang Registrierkarten hat anfertigen, sie also staatlich hat observieren lassen. Rechtsextremistische Gruppen befanden sich laut PUK ebenso wenig im Fokus der polizeilichen Ermittler wie die Gefahren des organisierten Verbrechens, insbesondere des Betäubungsmittelhandels. Die PUK wirft den Verantwortlichen der staatsschützerischen Praktiken Machtmissbrauch sowie eine grundlegende Verletzung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien vor. Dies angesichts der vielen politisch und sozial engagierten, eher progressiv gesinnten Personen, die in den Jahren zuvor durch Berufsverbote in existenzielle Schwierigkeiten gebracht worden waren.

Sturm der Entrüstung

Doch nicht nur die grosse Anzahl, sondern auch die nichtfundierte, unsystematische und fehlerhafte Praxis der staatlichen Überwachungen erhitzt die Gemüter. Und so lösen die vom konsternierten PUK-Präsidium, bestehend aus SP-Nationalrat Moritz Leuenberger und CVP-Ständerätin Josi Meier, offiziell preisgegebenen Funde aus der «Dunkelkammer der Nation» einen Sturm der Entrüstung aus. Am Samstag, den 25. November 1989, einen Tag vor der GSoA-Abstimmung, beschäftigen sich alle Massenmedien mit dem Bericht, indes mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Allein die jeweiligen Titel der Presse verweisen auf eine Bandbreite von Deutungen über die Situation in der Bundesanwaltschaft. Während etwa die liberale NZZ zugunsten einer Schadensbegrenzung dazu aufruft, die «Probleme in ihren richtigen Proportionen» zu betrachten und das Ausmass der Überwachung zunächst ausser Acht lässt, schürt das Boulevardblatt «Blick» unter dem Aufmacher «Kopp-Bericht: Die Wahrheit – ein Schock!» dramatisierend Emotionen.

Für den «Tages-Anzeiger» ist der «Staatsschutz ausser Kontrolle» geraten, und Redaktor Rolf Wespe moniert: «Diese Papierarbeit der Bundespolizei erinnert fatal an die Praktiken des in der DDR soeben abgehalfterten Staatssicherheitsdienstes.» Urs Paul Engeler beklagt sich in der «Weltwoche», dass das bisher offengelegte «Sittengemälde» nur unzureichend ausgeleuchtet, «lange Quergänge des geheimen Höhlensystems» noch nicht abgeschritten worden seien, weswegen er eine neue PUK mit erweitertem Auftrag fordert. In der Öffentlichkeit ist von Bespitzelung die Rede. Die Metapher vom «Schnüffelstaat Schweiz» wird geprägt.

Einen Tag später, am Sonntag, den 26. November – das politische Klima hat wegen der «Fichenaffäre» einen Kulminationspunkt erreicht – wird endlich über die Armee abgestimmt. Und siehe da: Bei einer schweizweit hohen Stimmbeteiligung votieren sagenhafte 35,6 Prozent für die Abschaffung der Schweizer Armee. In den Kantonen Jura und Genf wäre die Armee sogar abgeschafft worden. Mit diesem Resultat zugunsten eines selbst in GSoA-Kreisen für utopisch gehaltenen Anliegens hatte niemand gerechnet.

Am 1. Dezember erscheint schliesslich die erste Ausgabe der WOZ nach den spektakulären Politereignissen von Ende November. Im Bezug auf die Fichenfunde fällt ihre Kritik am drastischsten aus. Sie prangert nicht nur die offengelegten Zustände des präventiven Staatsschutzes an, sondern geisselt generell sowohl die staatliche Funktion der politischen Polizei als auch die von der PUK geforderten Massnahmen zur Wiederherstellung ihrer institutionellen Glaubwürdigkeit. So führe etwa ein «effizienter, vernetzter Zentralcomputer» durch Bündelung verschiedenster Datenbestände aus den Kantonen letztlich zu einer besonderen Gefahr des Datenmissbrauchs, während andererseits Datenschutzgesetze, ohnehin nur ein «Beruhigungsmittel», seit Jahren ohne nennenswerte Ergebnisse verhandelt würden. Entsprechend entrüstet sich Jürg Frischknecht über die Reformanträge der Kommission, die bewirkt hätten, dass das Parlament «in der kommenden Woche allen Ernstes [diskutiert], wie die schweizerische Stasi etwas effizienter und kontrollierter zu organisieren sei.»

Da aber Weigerungen, sich mit politischen Minderheiten offen auseinanderzusetzen, Kennzeichen totalitärer Regime seien, fordert er – den Erfolg der Armeeabschaffungsinitiative vor Augen: «Schaffen wir die politische Polizei ab!» Doch damit nicht genug: Die von der WOZ gerügten Fehler des PUK-Berichts – er sei «zu brav ausgefallen», er habe «höchstens die halbe Wahrheit aufgezeigt», und er gelte als ein trügerisches «Musterbeispiel dafür [...], dass ‹demokratische Kontrolle› hierzulande funktioniert» – liessen nur eine Konsequenz zu: Die BürgerInnen müssten sich selbst um die Aufarbeitung der empörenden Zustände kümmern. Es gelte, so Frischknecht, Druck aufzubauen, «bis wir unsere Akten holen können»; und so schliesst der Artikel mit einem Aufruf zur Protestmobilisierung. Ihm werden zahlreiche folgen ...

«Skandalisierungs-Crescendo»

Der Anfang dessen, was als «Fichenskandal» in die Schweizer Geschichte eingegangen ist, war getan: Die von MandatsträgerInnen einer staatlichen Institution begangenen Verfehlungen waren enthüllt und von AkteurInnen aus Politik und Massenmedien als verfassungswidrig gebrandmarkt worden. Doch drängt es SkandalierInnen zugunsten der Aufarbeitung eines aufgedeckten Fehltritts immer auch nach Entschädigung und Genugtuung. Insofern reagierten zunächst empörte Parlamentsmitglieder und Medienschaffende aus linken und grün-alternativen Kreisen, indem sie das Komitee «Schluss mit dem Schnüffelstaat» gründeten. Es wurde der Öffentlichkeit am 15. Dezember präsentiert und rasch von zahlreichen Parteien, Organisationen sowie Einzelpersonen unterstützt.

Zentrale AkteurInnen dieses Komitees organisierten in den kommenden Wochen und Monaten Protestaktionen. Sie forderten – über die Anträge der PUK zur Reform der Bundespolizei hinausgehend – uneingeschränkte Akteneinsicht, bedingungslose Aufklärung, Schadensersatz für Betroffene sowie die Ahndung verantwortlicher MandatsträgerInnen. Zudem sammelten sie ab Frühjahr 1990 Unterschriften zugunsten der 1991 eingereichten Initiative S.o.S. – Schweiz ohne Schnüffelpolizei. Von Medienschaffenden unterstützt, bauten sie mit ihren Aktionen öffentlichen Druck auf die betroffenen Departementsvorsteher im Bundesrat, Arnold Koller und Kaspar Villiger, auf. Geprägt von einem Wechselspiel aus unnachgiebigen Nachforschungen und zögerlichen Zugeständnissen, durch das immer mehr staatlich-institutionelle Verfehlungen aufgedeckt und geahndet wurden, verlief das gesamte Jahr 1990 innenpolitisch überaus turbulent.

Das zwölfmonatige «Skandalisierungs-Crescendo» (Kurt Imhof) fand seinen Abschluss im November 1990, als die Enthüllungen über die sogenannte Geheim- und Widerstandsarmee P26 sowie den geheimen Nachrichtendienst P27 nochmals für Aufsehen sorgten. Die öffentlichen Proteste über die staatlichen Registrierungen gipfelten indes bereits Anfang März in einer vom Komitee organisierten Grossdemonstration in Bern. Abgesehen von bis zu 35 000 friedlich Demonstrierenden, entluden ca. 200 Militante ihre Wut über den «Schnüffelstaat», indem sie, symbolisch Bezug nehmend auf die Stürmung der Staatssicherheitszentrale in Ostberlin, gewaltsam versuchten, in die Bundesanwaltschaft einzudringen.

Für die radikaleren Protestierenden lag eine Staatskrise vor, und so stellten zahlreiche unter ihnen das gesamte System infrage. Anderen erschien die Ereigniskonstellation vor allem als eine Vertrauenskrise in die Funktionstüchtigkeit der Institutionen des Staatsschutzes, die es entsprechend der internationalen Umbrüche grundlegend zu reformieren galt.

Historisch zu konstatieren bleibt, dass am Ende des Kalten Krieges von einer nationalen Orientierungskrise gesprochen werden kann. Als das Jahrzehnte währende ideologische Blockdenken mitsamt seinen aggressiven Feinbildern in Auflösung begriffen war, nahmen insbesondere linke AkteurInnen eine soziopolitische Aufbruchstimmung wahr, die sie, ihrem Wunsch nach einer «anderen Schweiz» folgend, zugunsten der Umgestaltung ihres Landes in Protestaktionen überführten. Angesichts des weltpolitischen Wandels galt es, so ihr Anspruch, für diverse gesellschaftliche Aufgabenfelder – etwa in den Bereichen innere und äussere Sicherheit, Umweltschutz, internationale Integration oder Erinnerungskultur – neue Lösungsentwürfe zu institutionalisieren.

Kritik im Schaufenster?

Da die Schweiz als Nation 1991 im Rahmen der sogenannten 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft umfänglich zelebriert werden sollte, nahmen die Auseinandersetzungen zu den gesellschaftlichen Themen auf dieses Ereignis Bezug. Und so provozierte die sogenannte Fichenaffäre, deren Skandalisierung entscheidend von ParlamentarierInnen getragen worden ist, Anfang 1990 verstärkt ausserparlamentarische Widerstandsformen. Ende Februar unterzeichneten mehrere Hundert Kulturschaffende zunächst eine Drohung, ihre Mitarbeit an der Staatsfeier zu boykottieren, sofern «bis Ende Jahr nicht alle Registrierten volle Einsicht in Fichen und Akten erhalten und die Polizei ihrer Schnüffelaufgabe entledigt ist». Denn, so ihre Argumentation, waren sie in den Jahrzehnten zuvor wegen ihrer unkonventionellen Ideen zur Gestaltung der Schweiz als «Nestbeschmutzer» oder «Vaterlandsverräter» diffamiert und registriert worden, rief man sie anlässlich der Feier offiziell auf, die Gesellschaft «kritisch auszuleuchten», «ausgetretene Pfade zu verlassen» und «allzu Eingespieltes in Frage zu stellen». Die Boykottdrohung brachte es auf den Punkt: «Im staatlich finanzierten Jubiläums-Schaufenster sollen wir kritisch sein. Sind wir es ausserhalb, werden wir als Staatsgegner registriert.»

Als Ende April im Anschluss an die Frühjahrssession des Nationalrates absehbar war, dass die in der Boykottdrohung formulierten Forderungen keine Chance haben würden, stand eine erneute Reaktion aus. In Kooperation von Mitgliedern der Gruppe Olten und der WOZ wurde das Komitee Kulturboykott 700 konstituiert, das sich für eine Aufwertung der Rolle Kulturschaffender in der Gesellschaft engagierte. Es lancierte eine definitive Boykotterklärung, in der unter anderem die Folgenlosigkeit der Drohung als «altbekannter Ausdruck genereller Geringschätzung der Kulturschaffenden» beklagt wurde. Indes der «Kulturboykott» in den kommenden Wochen in der Öffentlichkeit immer wieder diskutiert wurde. Auch unter Kulturschaffenden war er umstritten, nicht zuletzt, weil viele auf das zugesagte Entgelt für die Projekte angewiesen waren oder sich hinsichtlich einer Unterzeichnung von KollegInnen unter Druck gesetzt fühlten.

Im Oktober 1990 schliesslich initiierten AkteurInnen diverser nicht etablierter Politgruppen das Komitee «700 Jahre sind genug». Es ging darum, verschiedene Widerstandsanliegen in gemeinsamen Aktionen zu bündeln beziehungsweise ihnen durch eine «gesamtschweizerische Koordination zu mehr Medienpräsenz zu verhelfen». Ein besonderer Fokus galt der Revision des bis dato politisch instrumentalisierten Geschichtsbildes, auf dessen mythologisches Datum 1291 das Jubiläum der Nationalfeier gründete. Die zeitgenössische Kritik monierte, dass das Jahr mit der demokratisch-republikanischen Verfasstheit des Bundesstaates seit seiner Konstituierung 1848 und deshalb mit der zeitgemässen «Nation Schweiz» am Ende des 20. Jahrhunderts nichts zu tun habe. Entsprechend wurden im Januar 1991, als die offiziellen Feierlichkeiten begangen wurden, im Tagungszentrum von Salecina im Engadin eine Woche lang Fragen zur Nationalisierung der Geschichte und ihrer ideologischen Vereinnahmung umfassend diskutiert und hinterher publiziert.

Deutungshoheit verloren

Zieht man rückblickend Bilanz, dann verdichteten sich in der Schweiz, unter dem Vorzeichen des weltpolitischen Umbruchs, Deutungskämpfe um das nationale Schweizbild, die bereits im Rahmen der Auseinandersetzungen über den Beitritt zur Uno 1986 ihren Anfang nahmen. Verschiedene Elemente, die für die fiktive Homogenisierung einer heterogenen Staatsgemeinschaft beziehungsweise für deren nationale Konstituierung zentral sind, wurden zwischen 1989 und 1992 teilweise besonders vehement in der Öffentlichkeit ausgehandelt: von den Auseinandersetzungen über das Nationalsymbol Schweizer Armee (GSoA-Abstimmung) über eine veränderte Bedeutungszuschreibung der beiden Prinzipien «Staatsschutz» und «Demokratie» (Fichenaffäre) sowie die Debatten über das Geschichtsbewusstsein («Diamant»/700-Jahr-Feier) bis hin zu den einmal mehr geführten Diskussionen über die internationale Integration (EWR-Abstimmung).

Infolge der Beendigung des Kalten Kriegs entstand eine politische Atmosphäre, in der Jahrzehnte währende Werte und Programme ihre Deutungshoheit verloren und entsprechende Skandalisierungen möglich wurden. Ausgehend von den politischen Skandalen und ideell Bezug nehmend auf die 700-Jahr-Feier, formierte sich mithin eine überaus kreative Protestbewegung, die von verschiedenen AkteurInnen und Netzwerken getragen worden ist und teilweise erhebliche Mobilisierungserfolge zu erzielen vermochte. So unterschiedlich die proklamierten Anliegen zugunsten eines soziokulturellen Wandels der Schweiz auch gewesen sein mochten, die wie auch immer bezeichnete Krise galt den AkteurInnen als Wendepunkt, an dem bestimmte für das künftige Gemeinwohl konstitutive Regeln neu ausgehandelt und transformiert werden mussten. Zu welchen gesellschaftlichen Veränderungen dieser Aufbruch mittelfristig geführt hat, steht als spannendes Forschungsdesiderat im Raum. Festgehalten werden kann jedoch: Die damalige Zeit war geprägt von einer, verglichen mit heute, relativ hohen Bereitschaft zu politischem Engagement.


Die Historikerin Dorothee Liehr (39) ist Assistentin und Lehrbeauftragte an der Forschungsstelle für schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ihre Doktorarbeit mit dem Titel «Auf der Suche nach einer anderen Schweiz. Nation und Protest am Ende des Kalten Krieges 1989–1991» wird 2010 an der Universität Zürich eingereicht.