Die Schweiz nach 1989: Das Comeback nationaler Reflexe
Ende der achtziger Jahre pulverisierte eine Kettenreaktion an Ereignissen bisherige Gewissheiten. Der Historiker Jakob Tanner über die Folgen und das bloss vermeintliche Ende von Armee und «Schnüffelstaat».
Am 26. November 1989 ging eine Erschütterung durch die Schweiz: Die Volksinitiative «Für eine Schweiz ohne Armee und eine umfassende Friedenspolitik» der GSoA hatte sage und schreibe 35,6 Prozent Ja-Stimmen erreicht, und dies bei einer hohen Stimmbeteiligung von gegen 72 Prozent. Der Abstimmungskampf war mit harten Bandagen geführt worden. «L’armée, ça tue, ça pollue, ça rend con» (Die Armee tötet, sie verschmutzt, sie macht blöd), skandierten DemonstrantInnen in der Romandie. Immerhin zwei Kantone, Jura und Genf, nahmen das Volksbegehren an, ebenso die Altersgruppe der 20- bis 32-Jährigen. Ein sensationelles Ergebnis, das mit voller Wucht in ein militärisch fortifiziertes nationales Selbstbild einschlug.
Das denkwürdige Abstimmungswochenende vor dreissig Jahren bildet den Schlussteil der gelungenen historischen Ausstellung «Ernstfall. Die Schweiz im Kalten Krieg», die im Museum Burg in Zug noch bis zum 26. April 2020 zu sehen ist. Im Ausstellungsraum wird auf der einen Seite die Schweiz der Geistigen Landesverteidigung nachgestellt, die während der ganzen Nachkriegszeit einen etwas paranoiden Antikommunismus pflegte und mit den so erzeugten Bedrohungsgefühlen eine überdimensionierte Armee aufrüstete, die auch Atombomben für unverzichtbar hielt, diese aber nicht bekam. Auf der anderen Seite und antithetisch dazu führt ein Weg durch ein ziemlich anderes Land, in dem soziale Bewegungen, NonkonformistInnen, staatskritische Schriftsteller, Atomwaffengegnerinnen, 68er-Linke, die Frauenbewegung, die antimilitaristischen Aktivistinnen und GSoA-Anhänger das Feld beherrschen. Diese visuelle Choreografie ist deswegen produktiv, weil sie den Blick dauernd übers Kreuz auf die jeweils andere Seite lenkt. Gezeigt wird eine konflikthafte Schweiz, in der sich ein Totalverteidigungsdispositiv durch eine Vielzahl von intellektuellen Interventionen und praktischen Provokationen herausgefordert sieht.
Im bipolaren Ausstellungsraum wird auch nachvollziehbar, wieso die Armeeköpfe von der GSoA-Abstimmung auf dem falschen Fuss erwischt wurden. Eine Regierung, die noch 1988 schreibt: «Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee», lieferte die argumentative Steilvorlage für jene, für die eine Demokratie nicht mit einer zwangsintegrierten Militärnation verträglich ist. Indem sich die Armee in den ausgehenden achtziger Jahren ohne Not in einen gefühlten Ernstfall hineinmanövrierte und im Sommer 1989 auch noch versuchte, die Veteranen der sogenannten Aktivdienstgeneration aus dem Zweiten Weltkrieg mit erlebnisfrohen Aktionen in die Abstimmungsschlacht zu schicken, trug sie wesentlich dazu bei, das Abstimmungsresultat als plebiszitären Super-GAU aussehen zu lassen.
Militär als «Staat im Staat»
Zu diesem Eigentor kam hinzu, dass die GSoA-Abstimmung in eine ausserordentlich bewegte, medial aufgeheizte Phase fiel, in der viel politisches Vertrauen verspielt wurde. Wenige Tage vor dem Urnengang hatte die Parlamentarische Untersuchungskommission, die die «Kopp-Affäre» untersuchte, die Existenz von 900 000 Fichen enthüllt. Schlagartig wurde klar, wie sehr das Militär als «Staat im Staat» eine Mentalität stützte, die demokratische Kritik als staatsgefährdend einstufte. Am 3. März 1990 fand in Bern vor dem Bundeshaus eine Riesendemonstration gegen den «Schnüffelstaat» statt, und Kulturschaffende lancierten einen Boykott gegen die geplante Landesausstellung «CH-91».
Diese Kaskade von Skandalen und Protestaktionen fiel zeitlich mit der spektakulären Implosion des Ostblocks zusammen. Noch im Sommer 1989 waren ExpertInnen jeglicher Couleur der Auffassung, dass den osteuropäischen Machtapparaten aufgrund der bewährten Mischung von Repression und Reform noch ein langes Leben bevorstehe. Und dann passierte am 9. November in Berlin mit dem «Mauerfall» das Unwahrscheinliche, das zunächst auch jenen, die mit ihren Massenprotesten einen raschen Wandel vorangetrieben hatten, unwirklich vorkam. Angesichts des überraschenden Ereignisses rieb sich die Welt die Augen. Auch wenn die GSoA-Initiative nicht in derselben Relevanzliga spielte, so war die Schweiz damals doch jenes Land, in dem im selben Moment zum baffen Erstaunen der meisten eine bisherige Selbstverständlichkeit pulverisiert wurde.
Solche parallelen Prozesse verlaufen mimetisch: Dass eine medial ausgelöste, transnationale und blockübergreifende «Kettenreaktion» oder «Ansteckung» den flächendeckenden Stimmungswandel mit erklärt, wurde bereits Ende November 1989 auch in der Schweiz gesehen. «Die markanten Veränderungen der weltpolitischen Szene haben offenkundig viele Schweizer in ihrer Hoffnung bestärkt, der politische Trend neige sich zum allgemeinen Frieden», schrieb die NZZ mit Verweis auf «die dramatischen politischen Umwälzungen in Osteuropa».
Das Denken im Gefrierfach
Studien zur europäischen Geschichte weisen generell darauf hin, dass die beiden Seiten der Blockkonfrontation auch in «heissen Phasen» des Kalten Krieges durch «kommunizierende Röhren» miteinander verbunden waren. Im Stadium der Entspannung, das 1985 mit Michail Gorbatschows Perestroika und Glasnost einsetzte, waren «im westlichen und im östlichen Europa (…) nahezu parallele Entwicklungen zu beobachten», so der Historiker Philipp Ther.
Gemeinsamkeiten waren schon Anfang der achtziger Jahre zu beobachten. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs machte sich ein Reformstau bemerkbar, der in den kapitalistischen Industrieländern dem «Thatcherismus» und den «Reaganomics» zum Durchbruch verhalf und in der Europäischen Gemeinschaft einen Binnenmarktturbo in Gang setzte. In den planwirtschaftlichen Systemen scheiterte die Strategie einer Rettung durch Reformen. Die Ostblockstaaten verpassten insbesondere die mit dem Personal Computer rasch an Fahrt gewinnende Digitalisierung, die im Westen Geschäftsmodelle, Arbeitsformen und Lebensweisen tiefgreifend zu verändern begann. Der Versuch, den digitalen Umbau mit Technologieimport zu realisieren, erhöhte vor allem die Auslandsverschuldung.
Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme produzierte allerdings zunächst eine Asymmetrie auf der politisch-institutionellen Ebene. Die Unverfrorenheit, mit der der Kapitalismus umgehend seinen Sieg verkündete, machte deutlich, dass die mentale Struktur des Kalten Krieges fortdauerte. Francis Fukuyama trieb die geistige Unbeweglichkeit mit seiner Diagnose vom «Ende der Geschichte» auf die Spitze: Das TINA-Prinzip der achtziger Jahre («There Is No Alternative») wurde durch die triumphale Behauptung bestätigt, die «gottgegebene» Harmonie von Markt und Demokratie stelle das Telos der Geschichte dar und habe sich nun welthistorisch erfüllt. Da konnte man das Denken gleich im Gefrierfach lassen.
So kam es, dass die Debatten um eine «gesellschaftliche Transformation» exklusiv auf den Osten beschränkt blieben. Während im Westen alles in bester Ordnung schien, strebten MarktreformerInnen in osteuropäischen Ländern die wirtschaftliche Totalsanierung an, verbunden mit einem grossen Privatausverkauf. Und weil auf diesem grossen Experimentierfeld für neoliberale Reformen einiges schieflief, griff ein schon in den achtziger Jahren grassierender Nationalismus weiter um sich und wurde dann insbesondere nach der globalen Finanzmarktkrise ab 2008 in Ländern wie Ungarn und Polen dominant.
Die gleichen Tendenzen manifestierten sich allerdings auch in kapitalistischen Industrieländern – die Schweiz ist ein gutes Beispiel für das Comeback nationaler Reflexe. Das innenpolitische Drehmoment von GSoA-Abstimmung und Fichenskandal erlahmte sichtlich. Der programmatische Aufbruch, der sich in einer Abkehr vom Réduit-Komplex und im bundesrätlichen Beitrittsgesuch an die Europäische Gemeinschaft vom Frühjahr 1992 äusserte, wurde durch eine geschichtsmythologisch unterfütterte Renationalisierungskampagne der SVP gebrochen. Es gelang dieser finanzstarken Partei, die von Bundesrat und Parlament angestrebte aussenpolitische Neupositionierung der Schweiz abzublocken. Die Ablehnung der EWR-Vorlage im Dezember 1992 löste einen veritablen Kontra-Schock aus und leitete den Höhenflug der SVP ein. Bis 2007 steigerte sie ihren Stimmenanteil bei den Nationalratswahlen kontinuierlich. Die einstige Zwölfprozentpartei lag nun knapp unter dreissig Prozent und trieb mit ihrer EU-Gegnerschaft und Fremdenfeindlichkeit die bürgerlichen Parteien vor sich her.
«Erfolgreichste Niederlage»
Der ideologisch-politische Backlash ging – analog zur Entwicklung in Osteuropa – mit einer Hegemonie des Neoliberalismus einher. Dieser stützte sich auf die Maximen des marktfundamentalistischen «Washington Consensus» von 1989, der die Massnahmentriade «Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung» auf globaler Stufenleiter propagierte. In der Schweiz wurden diese Leitideen durch die beiden wirtschaftsliberalen «Weissbücher» (1991 und 1995) verbreitet. Dies half zwar nicht aus der wirtschaftlichen Stagnation heraus, die in der Schweiz bis in die Mitte der neunziger Jahre und damit weit länger als in der Europäischen Union andauerte. Doch in verschiedenen Bereichen kam es zu Reformen. Die Reorganisation des landwirtschaftlichen Subventionssystems, das neue Kartellgesetz von 1995 sowie die Auflösung der Schweizerischen Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT) auf Beginn 1998 beförderten diese Liberalisierungskonjunktur, die erst mit der Ablehnung des Elektrizitätsmarktgesetzes im Jahr 2002 einen deutlichen Dämpfer erhielt.
Seither ist die Frage nach dem Ausbau eines für alle gut funktionierenden öffentlich-demokratisch kontrollierten Service public nicht mehr von der Traktandenliste der Innenpolitik verschwunden. Demgegenüber befindet sich die Schweizer Armee finanziell und personell weiterhin auf Sinkflug. Verfügte sie 1989 noch über 625 000 Mann starke Truppen, so sind es heute noch 100 000 Mann. Das militärfreundliche Institut für Strategische Studien spricht von einem «stetigen Abrüstungsprozess (…), der im Vergleich zu jenem der wichtigsten NATO-Staaten Europas beinahe noch dramatischer verlief». Der grüne Politiker und GSoA-Aktivist Jo Lang qualifizierte deshalb die Armeeabschaffungsinitiative als «wohl erfolgreichste Niederlage der Schweizer Geschichte».
Die Aussage ergibt dann Sinn, wenn zugleich gesehen wird, dass es auch massgeblichen Militärs und Wirtschaftslobbyisten zu dämmern begann, dass «Landesverteidigung» und «Staatsschutz» in Zeiten forcierter Globalisierung und verschärfter nationaler Standortkonkurrenz anders aussehen müssen als noch im Kalten Krieg. Von der Schweiz aus operierende multinationale Konzerne und Finanzdienstleister haben wenig Interesse an einem verstaubten Karteikastenfichenstaat und einer riesigen, schlecht ausgebildeten Milizarmee. Sie suchen Sicherheit vor allem im Cyberwar und streben nach grenzüberschreitenden Überwachungsmöglichkeiten auf technisch höchstem Niveau. Wenn schon weiterhin traditionelle Territorialverteidigung, dann bitte kostenreduziert! Das zeigt: Die Entwicklung hin zu einer billigeren Armee hätte sich zwar ohne den enormen GSoA-Schub von 1989 nicht so rasch ereignet. Gleichzeitig gibt das Dreissig-Jahr-Jubiläum der Abschaffungsabstimmung nicht nur zu Euphorie Anlass.