«Kaspar Häuser Meer»: Reif für die Kantate
Drei Jugendsozialarbeiterinnen stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Die Schweizer Erstaufführung des Stücks von Felicia Zeller leuchtet ins Innenleben einer überforderten Branche.
Sie stehen vor je einem Stapel Papier, und je furioser sie die Formulare abarbeiten und sich in immer verzweifeltere Monologe versteigen, desto höher wird der Aktenturm. Was wir im Kleintheater in der Villa Winkelwiese voyeuristisch bewundern, ist die absurde Professionalität, mit der die Sozialarbeiterinnen Anika, Barbara und Silvia, sprachvirtuos interpretiert von Andrea Schmid, Franziska Dick und Vivianne Mösli, in einem Jugendamt ihren Dienst verrichten (Regie: Stephan Roppel). Dieser penetrante Jargon, heruntergeleiert bis zur Hysterie, gespickt mit Ausdrücken von der Gasse! Diese berufstypische Mimik, die innert Sekundenbruchteilen von empathischem Bedauern in pädagogische Strenge wechselt!
Heillos überfordert
Wir haben es mit Menschen zu tun, deren Beruf sie innert weniger Jahre an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Wiedergeboren in eine Gesellschaft, in der ein Mensch schon vor seiner Geburt zum Sozialfall prädestiniert ist, wäre Sisyphos heute womöglich eine Sozialarbeiterin. Nur: Wie sich der gesellschaftliche Druck auf das Innenleben dieser Berufsleute auswirkt, wird in der medialen Fixierung auf Themen wie Kindsvernachlässigung oder Jugendgewalt gern ausgeblendet. In «Kaspar Häuser Meer» verschiebt die 35-jährige Autorin Felicia Zeller den Fokus weg von den fotogenen Strassen im Problemquartier hinein in die traurigen Büros der Jugendämter. Wie genau sie dabei hinter die Kulissen der zeitgenössischen Sozialarbeit blickt und horcht, beweist der grosse Erfolg, mit dem das Stück von Zeller auf vielen Bühnen in Deutschland gespielt wird.
Gerade am Beispiel von Kindsvernachlässigungen zeigt sich, unter welchem Druck heute viele SozialarbeiterInnen arbeiten. In vielen Fällen werden SozialarbeiterInnen mit massiven Vorwürfen konfrontiert. «Die Angst geht um unter den Sozialarbeitern, und sie wächst mit jedem Kind, das irgendwo in Deutschland stirbt», war in der «Zeit» vom 26. Mai 2008 zu lesen: «Immer hat das Jugendamt etwas gewusst, in Bremen, wo man die Überreste des kleinen Kevin in einem Kühlschrank fand, in Hamburg, wo ein Mädchen namens Jessica in einer Hochhauswohnung verhungerte, und in Schwerin, wo die Grosseltern der fünfjährigen Lea-Sophie vor deren Tod das Jugendamt noch gewarnt hatten, dass etwas nicht stimme. Nach dem Grundgesetz soll der Staat die elterliche Erziehung überwachen, und wenn ein Kind in Gefahr ist, muss er es schützen. Doch warum versagt er immer öfter? Was läuft schief in den Jugendämtern?»
Die Forderungen nach Verschärfungen im Strafrecht werden immer lauter, aus den gleichen Reihen erschallt auch das Verlangen nach Sparmassnahmen im Sozialbereich. Die Folgen bekommen die Fachleute auch hierzulande zu spüren. «Das latente Zu-Spät-Kommen, das ständige Bemühen, der ablaufenden Zeit planerisch nachzujagen», schreibt die Autorin zu ihrem Stück, «dieses Hinterherhinken bei gleichzeitigem Bemühen darum, schneller zu sein, prägt die berufliche Existenz der Fachkräfte im Allgemeinen Sozialen Dienst.»
Permanenter Notfall
Chronische Zeitnot bestimmt die Dramaturgie der Misere: «Können wir das nicht am Dienstag klären?» Damit verbunden ist zum Himmel schreiende Frustration. War der Beruf mit der seltsamen Betonung des Begriffs Arbeit bis in die achtziger Jahre noch stolze Selbstbezeichnung für ein soziales Engagement aus Profession, so hat sich sein Ruf in den vergangenen Jahren verschlechtert. Vorbei die Zeiten, da man, getragen vom Glauben an das Gute im Menschen und an die Veränderbarkeit der Zustände in die gesellschaftlichen Problemzonen ging. Die zeitgenössische Sozialarbeiterin, das zeigt Zellers Stück präzis zugespitzt, zeichnet sich durch einen Ausdruck von hilfloser Professionalität aus, in der Verbesserungsromantik nichts mehr verloren hat: Alles ist fachhochschulisch eingeübt, sozialtechnisch überprüft, durchgehend bürokratisiert.
«Lass mich in Ruhe, Welt!»
Man könnte auch sagen: resigniert. Verloren ist die Kraft der Utopie, nun geht es um das kleinere Übel. Und das heisst: Normierung. Kaum von der Fachhochschule mit den nötigen Papieren ausgestattet und behördlich in die realen Problemfelder geschickt, kommt das böse Erwachen: Die Sozialarbeiterin ertappt sich als sozialpädagogisch verkleidete Polizistin. Jedes Gespräch muss protokolliert, jede Massnahme schriftlich begründet, jeder Vorschlag beantragt werden. Prävention lautet das allgegenwärtige Zauberwort, aber die gesellschaftliche Wirklichkeit ist längst schon permanente Notfallstation. Bürokratie als Ordnungsfaktor: Aus Berufssolidarität ist ein verlängerter Arm staatlicher Massregelung geworden. Und stetig lauert das Gesetz und wartet darauf, dass der Sozialarbeiterin ein justiziabler Fehler unterläuft.
Dann, wenige Tage vor der grossen Jahresstatistik, fällt wegen eines Burn-out-Syndroms für unbestimmte Zeit auch noch ein Mitarbeiter aus und hinterlässt ungelöste Fälle und unerledigte Arbeit. Die drei Frauen versinken in einem stetig steigenden Meer von Notizen, Formularen, Termineintragungen und Akten, bereichert durch amtsinterne Konflikte und deren permanente Psychologisierung. Aus dieser absurden Grundsituation hat Zeller eine Sprachpartitur komponiert, in der sich Splitter des Fachjargons zunehmend verselbstständigen, mit persönlichen Ängsten und Sehnsüchten vermischen und zu immer widersinnigeren Sätzen bis hin zur veritablen Kantate verbinden: «O! Jetzt wird es mir aber zu viel! Dann lege ich mich erst mal zu Hause hin und ziehe mir die Decke über den Kopf. Und sage: Lass mich in Ruhe, Welt, ich bin nicht da. Das könnte fast eine Kantate von Bach sein. Lass mich in Ruhe, Welt! O wenn dieser Mann noch leben würde, ich würde ihm stante pede eine Aufforderung schicken, uns Sozialarbeitern eine eigene O Kantate zu schreiben!»
Am liebsten würde man gleich alle drei in die Ferien schicken, in eine «Finca in völlig menschenleerer Umgebung».
«Kaspar Häuser Meer» in: Zürich Theater Winkelwiese, Do-Sa, 4.-6., So, 14., Mi-Sa, 17.-20. Februar, Fr/Sa, 19./20. März, 20.30 Uhr (sonntags 17 Uhr). www.winkelwiese.ch