Masernimpfung: Das Winterthema

Nr. 8 –

Wenn im Winter die Medien über eine «Masernepidemie» schreiben, freut sich das Bundesamt für Gesundheit

Vor einem Jahr starb in einem Genfer Spital ein Mädchen aus dem benachbarten Savoyen an den Folgen einer Masernerkrankung. Zu jener Zeit erreichte die mediale Aufmerksamkeit für ein Thema seinen Höhepunkt, das schon den dritten Winter lang regelmässig für Schlagzeilen sorgte: die Masern, respektive die Masernimpfung, respektive die «Impfmüdigkeit» vieler SchweizerInnen.

Tatsächlich sind Masern keine sehr spektakuläre Krankheit und geben an sich wenig Titelseitentaugliches her. Die Umstände aber lieferten den Stoff für schnell geschriebene Kommentare: Seit im November 2006 eine Masernepidemie im Luzernischen ihren Anfang genommen hatte, erkrankten ­nirgendwo in Europa so viele ­Menschen an Masern wie in der Schweiz. Und es gibt auch kaum ein vergleichbares Land, wo so wenige Leute sich oder ihre Kinder gegen diese Kinderkrankheit impfen lassen wie hierzulande. Also beschimpften Zeitungen die Impffaulen unter ihren LeserInnen schon mal als «Egoisten», moralische Entrüstung herrschte, und Talkshows liessen die extremste Impfgegnerin auf den extremsten Impfturbo treffen. Es «grassiere» die Masernepidemie, hiess es – die drastische Wortwahl ging dabei auf eine Pressemeldung des Bundesamtes für Gesundheit zurück und wurde von fast allen Medien übernommen.

Und nun ist das Thema einfach weg. Der Grund ist banal, und man hätte damit rechnen können: An Masern erkranken jedes Jahr ein paar wenige Menschen, rund alle zehn Jahre gibt es aber eine Epidemie. Die jüngste Epidemie erreichte im Winter 2007/08 ihren Höhepunkt, war im Winter 2008/09 bereits am Abflauen – und nun ist sie eben vorbei.

Das könnte eine Gelegenheit sein, in Ruhe ein Fazit zu ziehen: 4400 Krankheitsfälle wurden während der ganzen Epidemie in der Schweiz gemeldet, deutlich weniger als in den Epidemien von 1987 und 1997. Todesfälle gab es keine; das in Genf gestorbene Mädchen hatte seinen Wohnsitz in Frankreich und zählt nicht für die Schweizer Statistik.

Allerdings lehnt sich keine Zeitung zurück, um in Ruhe diese Fakten zu betrachten – und man wird das auch gar keiner Journalistin und keinem Journalisten zum Vorwurf machen wollen: Eine Epidemie, die nicht mehr stattfindet, ist eben kein Thema.

Und doch ist, was so normal ist, nicht ganz unproblematisch. In der wissenschaftlichen Fachpublizistik nennt man ein ähnliches Phänomen «publication bias» (ungefähr: Verfälschung durch Veröffentlichung). Auch wissenschaftliche Fachjournale schreiben nämlich lieber, was ist, als was nicht ist. Deshalb werden Studien, die nachweisen, dass ein Medikament wirkt, viel eher und prominenter publiziert als solche, die die Wirkungslosigkeit eines Medikaments aufzeigen. Davon profitiert die Pharmaindustrie, deren Produkte auf diese Weise besser aussehen, als sie sind.

Im Falle der Masernepidemie profitieren die Behörden. Denn das ­Bundesamt für Gesundheit will, im Einklang mit der Weltgesundheitsorganisation, die Masern ausrotten. Dazu ist es aber unabdingbar, dass sich ­mindestens 85 oder 90 Prozent der Bevölkerung impfen lassen: Uns geht es an dieser Stelle nicht darum, das Für und Wider solcher Impfung zu diskutieren. Es sei nur festgestellt, dass die Impfrate in der Schweiz zu tief liegt, ein Impfzwang aber politisch nicht opportun ist. Den Behörden bleibt deshalb nicht viel anderes übrig als – je nach Perspektive wird man es so oder so nennen – Aufklärung oder Propaganda.

Der charakteristische Verlauf der Masern führt fast zwangsläufig zu Medien-Hypes in den Epidemiewintern, während das Thema zwischenzeitlich wieder verschwindet. Nicht, dass wir nun fordern, über jede Epidemie, die gerade nicht «grassiert», sei auch noch zu schreiben. Aber wenn sich etwas mehr JournalistInnen der Wechselwirkungen zwischen Epidemiologie, Aufmerksamkeitsökonomie und politischen Interessen bewusst wären, könnte schon viel gewonnen werden. Die Erfahrungen mit BSE, Vogel- und Schweinegrippe sollten eigentlich helfen, vorsichtig zu sein und damit glaubwürdig zu bleiben.