Sans-Papiers: Eine Behörde bricht das Gesetz

Nr. 9 –

Die links-grün regierte Stadt Lausanne will papierlosen SchulabgängerInnen eine Lehre ermöglichen – und löst damit eine heftige Polemik aus.


Es war ein gelungener Coup: Wenige Tage vor der Sondersession des Nationalrats zum Thema Migration machte die Stadt Lausanne Schlagzeilen bis in die deutsche Schweiz. Sie will jugendliche Sans-Papiers als Lehrlinge in der Gemeindeverwaltung beschäftigen, was einem Gesetzesbruch gleichkommt. «Lausanne probt den Aufstand», titelte die NZZ. «Wir setzen auf die Illegalität», gab der für Jugend und Erziehung zuständige Stadtrat Oscar Tosato zu. Postwendend drohte der liberale Waadtländer Staatsrat Philippe Leuba der unbotmässigen Exekutive, sie mit einer Strafanzeige und administrativen Sanktionen zur Vernunft zu bringen.

Ende mit der Heuchelei

Worum geht es? Kinder von Papierlosen dürfen zwar die Schule besuchen, sie können jedoch keine Lehre machen. Denn Lehrstellen setzen einen Arbeitsvertrag voraus, und ein solcher kann nur abgeschlossen werden, wenn eine Aufenthaltsbewilligung vorliegt. In Lausanne gehen zwischen 200 und 300 Kinder von Papierlosen zur Schule. Wenn sie mit fünfzehn Jahren nicht das Gymnasium besuchen können, trifft sie das Schicksal ihrer Eltern: Sie tauchen im Heer der recht- und perspektivlosen Sans-Papiers mit prekären Jobs unter. «Diese Kinder sind doppelt diskriminiert», sagt SP-Stadtrat Tosato: «Als Sans-Papiers haben sie nicht die gleichen Rechte wie ihre Altersgenossen, und als manuell Begabte sind sie gegenüber intellektuell Begabten benachteiligt.»

Das Problem besteht nicht nur im Waadtland. In elf Kantonen wird über den Zugang jugendlicher Papierloser zum Lehrstellenmarkt diskutiert, am Mittwoch dieser Woche beschäftigte das Problem auch den Nationalrat. Derweil ist Lausanne zur Tat geschritten und macht der «offiziellen Heuchelei», wie es der Lausanner Stadtpräsident Daniel Brélaz nennt, ein Ende. Das Projekt, Kinder von Sans-Papiers in der Stadtverwaltung eine Ausbildung machen zu lassen, ist keine Globallösung und betrifft, falls es denn realisiert wird, nur wenige Jugendliche. Aber es ist eine Schweizer Premiere, «das Ende einer kollektiven Weigerung, die Realität der Sans-Papiers anzuerkennen», sagt Rechtsanwalt Jean-Michel Dolivo, Mitglied des Unterstützungskomitees für die Sans-Papiers.

Dass Lausanne so leichten Herzens zur Gesetzesbrecherin werden will, liegt an der links-grünen Mehrheit der Stadt. Aber auch an einer besonderen Sensibilität für Migrationsprobleme: Jahrelang haben sich Bevölkerung und Behörden schützend hinter die als «Gruppe der 523» bekannt gewordenen Asylsuchenden gestellt, die die Eidgenossenschaft nicht regularisieren wollte. Vorbild für die Initiative ist die Erinnerung an eine medienträchtige Szene im Nachbarkanton Genf: Dort hat, vor mehr als zwanzig Jahren, der christdemokratische Staatsrat Dominique Föllmi unter den Augen der Öffentlichkeit ein kleines papierloses Mädchen an die Hand genommen und zur Schule gebracht. Er hat damit, im Namen des höheren Rechts auf Bildung für alle, geltendes Recht gebrochen und Kindern von «Illegalen» den Weg in die Schule ermöglicht. Auf höheres Recht beruft sich jetzt auch Oscar Tosato, nämlich auf die Kinderrechtskonvention der Uno, die Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung verlangt.

Nicht mehr diskriminieren

Dennoch wirft das Lausanner Projekt einige Fragen auf. Etwa: Ist die prekäre Existenz jugendlicher Papierloser oder gar die ihrer Eltern nicht gefährdet, wenn sie sich in aller Öffentlichkeit für eine Lehrstelle bei der Gemeindeverwaltung bewerben? Für Tosato kein Problem: «Sie sind nicht mehr gefährdet, als wenn sie zur Schule gehen!» Weiter: Bietet die Stadt da nicht einfach Schwarzarbeit an? «Schwarzarbeit besteht nicht darin, Menschen eine Arbeit zu geben, die keine haben, sie besteht in Schutzlosigkeit und Tiefstlöhnen», wehrt der Stadtrat ab. Drittens: Darf eine Behörde, auch unter Berufung auf humanitäre Werte, das Gesetz brechen? «Das ist die wesentliche Frage», gibt Tosato zu: «Die Diskussion über unsern Vorschlag wird weitere Lösungsvorschläge aufzeigen, die uns möglicherweise den Schritt in die Illegalität ersparen.»

Es gebe verschiedene Möglichkeiten, skizziert Tosato. Eine sei, dass Lehrverträge rechtlich nicht mehr mit Arbeitsverträgen verknüpft würden, womit das Problem der notwendigen Aufenthaltsbewilligung umgangen werden könnte. Lehrlinge erhielten stattdessen einen Ausbildungsvertrag und somit einen ähnlichen Status wie Schulabsolventen oder Empfänger eines Stipendiums. Aber Tosato hält an seinem Ziel fest, die festgestellte Diskriminierung mit allen Mitteln zu beseitigen: «Wir lassen uns nur von Lösungen von unserm Weg abbringen, nicht von Drohungen!», nimmt er zu Staatsrat Philippe Leubas empörter Reaktion Stellung.

Die Geschichte sei voll von Beispielen von Ungerechtigkeit und Verbrechen, für die man sich später nur noch entschuldigen könne: «Wir wollen nicht, dass sich die Schweiz in fünfzig Jahren bei den ehemaligen Sans-Papiers-Kindern entschuldigen muss.» Auch den Vorwurf, mit seinem Vorschlag Wasser auf die Mühlen der SVP zu leiten, nimmt Tosato auf die leichte Schulter. In der Lausanner Exekutive sitzen sechs links-grüne und ein bürgerlicher Vertreter: «Wenn uns die Bevölkerung mit einer so grossen Mehrheit gewählt hat, dann erwartet sie von uns, dass wir Vorschläge machen. Nicht, dass wir uns vor der SVP in den Staub werfen.»

Indirekte Schützenhilfe

Derweil haben sich die ersten harschen Reaktionen auf Tosatos Projekt gelegt. Christliche Organisationen wie das Centre social protestant und das Hilfswerk der evangelischen Kirchen Schweiz (Heks), Sans-Papiers-Organisationen und Gewerkschaften signalisieren Unterstützung. Dass es in der rot-grünen Lausanner Legislative eine Mehrheit finden wird, gilt schon jetzt als ausgemacht. Und sogar das Kantonsparlament hat bereits indirekte Schützenhilfe geleistet: Es weigerte sich letzte Woche, das Vorgehen der Stadt zu verurteilen, und forderte im Gegenteil Stadt und Kanton dazu auf, eine gemeinsame Lösung zu finden.

Für Linksaussen-Kantonsrat Jean-Michel Dolivo handelt es sich beim Lausanner Vorschlag um eine sinnvolle Ergänzung zu einem Entscheid des Waadtländer Kantonsparlaments. Dieses hat im vergangenen November die Regierung dazu verpflichtet, auf nationaler Ebene mit einem Vorstoss zugunsten einer Berufsausbildung für Jugendliche ohne legalen Status aktiv zu werden. Doch was hält der Jurist vom angekündigten Schritt der Lausanner Regierung in die Illegalität? «Die Mehrheit der Sans-Papiers zahlt Sozialabgaben und Steuern, und der Staat ist sich auch nicht zu schade, vom Resultat ihrer ‹illegalen› Tätigkeit zu profitieren», meint Dialektiker Dolivo.

Daniel Brélaz, historische Figur der Waadtländer Grünen, Nationalrat und Lausanner Stadtpräsident in einer Person, müsste in seiner Funktion als Bürgermeister eigentlich Verstösse gegen das Ausländergesetz anzeigen. Doch Brélaz wird gar nichts anzeigen. Der Vorschlag sei öffentlich. Wenn er umgesetzt werde, würden papierlose Lehrlinge angestellt und bezahlt, kündigte er an. «Wir werden nicht auf halbem Weg stehen bleiben.»