Sans-Papiers: «Man würde sie damit in eine Falle locken»

Nr. 13 –

Das Bundesparlament verlangt, dass Behörden Daten über Sans-Papiers austauschen. Bea Schwager, die Leiterin einer Anlaufstelle in Zürich, über mögliche Folgen des zügellosen bürgerlichen Bestrafungswillens.

Diesen Artikel hören (11:53)
-15
+15
-15
/
+15
Bea Schwager in der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich
«Ein solcher Datenaustausch würde gegen die Verfassung und gegen die Menschenrechte verstossen»: Bea Schwager in der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich.

WOZ: Bea Schwager, Sie leiten die Spaz, die Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich, seit zwanzig Jahren. Verlieren Sie nicht langsam die Nerven?

Bea Schwager: Diese Frage wurde mir schon oft gestellt. Ich habe immer darauf geantwortet, dass mich Angriffe eher noch anspornen. Jetzt bin ich aber froh, dass ich bald in Pension gehe.

WOZ: Vorletzte Woche überwies der Ständerat eine Motion an den Bundesrat, die die Behörden und Versicherungen zu einem systematischen Austausch von Personendaten verpflichten will, wenn sie Sans-Papiers betreffen: Wohnort, Versicherungsstatus, Leistungen von Sozialversicherungen und so weiter – um «die Anwesenheit von illegalen Migranten dauerhaft zu bekämpfen». Der Nationalrat hatte ihr schon letztes Jahr zugestimmt.

Bea Schwager: Da löscht es mir ab.

WOZ: Was hat die Motion bei der Spaz ausgelöst?

Bea Schwager: Wir haben sie in unseren Beratungsgesprächen noch nicht thematisiert. Auch weil noch unklar ist, wie genau sie schliesslich umgesetzt werden soll. Wir wollen die Leute nicht verängstigen. Wir wissen, dass jegliche Nachrichten in diese Richtung immer eine riesige Verunsicherung auslösen. Für uns sind noch viele Fragen offen.

WOZ: Aber ist der Motionstext nicht deutlich?

Bea Schwager: Man muss dazu sagen: Der Bundesrat hatte sich klar gegen die Annahme der Motion ausgesprochen. Und eigentlich hat die Politik in den letzten Jahren konsequent in die Richtung gedrängt, dass Sans-Papiers sich krankenversichern lassen sollen. Weil das die billigste Lösung für alle ist – ausser für die Sans-Papiers selbst. Notfallbehandlungen von Personen ohne Versicherung müssen schliesslich die Gemeinden oder die Spitäler bezahlen.

Bea Schwager: Würde die Motion angenommen, hätte man die Sans-Papiers, die sich versichern liessen, in eine Falle gelockt. Und schliesslich sind wir der Meinung, dass ein solcher Datenaustausch gegen die Verfassung und gegen die Menschenrechte verstossen würde. Erstere garantiert ein menschenwürdiges Dasein; und die europäische Menschenrechtskonvention verlangt grundlegende soziale Rechte unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

WOZ: Ist denn derzeit der Zugang zur Krankenversicherung tatsächlich gewährleistet?

Bea Schwager: Seit Anfang der nuller Jahre gibt es eine entsprechende Weisung des Bundesamts für Sozialversicherungen. Das war damals eine Reaktion auf die Bewegung, die mit Kirchenbesetzungen für die Rechte von Sans-Papiers kämpfte. Wir haben lange trotzdem davon abgeraten, eine Krankenversicherung abzuschliessen, wenn es nicht unbedingt nötig ist – wegen des finanziellen Risikos.

Bea Schwager: Sans-Papiers haben einen durchschnittlichen Monatslohn von 1500 Franken. Da kann man eine Prämie schlicht nicht stemmen. Seit ein paar Jahren können wir im Kanton Zürich aber Prämienverbilligungen beantragen. Seit letztem Jahr übernimmt die Stadt Zürich für Sans-Papiers, die in der Stadt leben, auch die Beträge, die durch die Verbilligungen nicht gedeckt sind. Zwischenzeitlich änderten wir deshalb die Strategie und rieten dazu, eine Versicherung abzuschliessen. Nachdem im letzten Jahr schon der Nationalrat der erwähnten Motion zugestimmt hatte, haben wir damit aber wieder aufgehört. Das war wohl die erste konkrete Konsequenz daraus.

WOZ: Besteht jetzt die Gefahr, dass Personen, die bei einer Versicherung gemeldet sind, künftig von den Migrationsbehörden aufgespürt werden können?

Bea Schwager: Viele Sans-Papiers haben bei der Krankenkasse nur eine C/o-Adresse, also nicht ihre eigene gemeldet. Bei den Übrigen könnte das durchaus geschehen. Das wäre verhängnisvoll.

WOZ: Was sind andere mögliche Folgen des drohenden Datenaustauschs?

Bea Schwager: Sicher ist, dass er Sans-Papiers nicht davon abbringen wird, hier zu leben. Ihre Situation wird sich aber verschlechtern. Wenn sie sich nicht mehr versichern lassen können, gehen sie auch nicht mehr zum Arzt, nicht mehr in die Spitäler, wenn sie es irgendwie vermeiden können. Ausserdem muss für Sans-Papiers-Kinder bei der Einschulung ein Versicherungsnachweis vorliegen. Es droht also der Schulausschluss von Kindern.

WOZ: Sind Schulbehörden nicht ohnehin von der Motion betroffen? Schliesslich sollen auch Gemeinden in den Datenaustausch einbezogen werden.

Bea Schwager: Wir rechnen eigentlich nicht damit, dass Schulen mitgemeint sind. 2018 war eine entsprechende Motion schon einmal im Parlament. Damals konnten wir die Parlamentarier:innen davon überzeugen, dass deren Annahme verhängnisvoll wäre. Sie wurde dann zurückgezogen.

WOZ: Wie steht es heute um den Zugang zu Sozialversicherungen, der ebenfalls erschwert werden soll?

Bea Schwager: Arbeitgeber von Sans-Papiers können Beiträge in die Sozialversicherungen einzahlen, ohne juristische Konsequenzen fürchten zu müssen. Das ermöglicht den Zugang zu einer Rente. Wobei es auch heute noch nicht möglich ist, eine solche Rente tatsächlich in der Schweiz ausbezahlt zu bekommen. Das muss über das Herkunftsland laufen. Im besten Fall haben Sans-Papiers bis zum Erreichen des Pensionsalters aber schon die Möglichkeit erhalten, ihren Aufenthalt zu regularisieren.

WOZ: Werden Sie unter den veränderten Bedingungen in der Spaz wieder davon abraten, in Arbeitsverhältnissen die Einzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen zu fordern?

Bea Schwager: Wir warten derzeit noch ab. Aber natürlich droht die neuerliche Verdrängung in die Schwarzarbeit. Die Lebensbedingungen werden sich verschlechtern. Dabei schreibt das Gesetz eigentlich vor, dass sie der Krankenkassenpflicht unterstehen – und gleichzeitig verunmöglicht man ihnen das jetzt. Bei den Sozialversicherungen gilt das Gleiche: Dazu wären die Arbeitgeber auch verpflichtet.

WOZ: Der jetzige Entscheid hat, gemessen an seiner Tragweite, wenig Medienecho ausgelöst. Woran liegt das?

Bea Schwager: Für viele Medien ist die Bedeutung einer solchen Massnahme wohl schwer nachzuvollziehen. Vielleicht hat man auch langsam genug von diesem Thema. Von all den wiederkehrenden ausserordentlichen Debatten zur Asyl- und Migrationspolitik der SVP.

WOZ: Für den neusten Entscheid trägt aber nicht nur die SVP die Verantwortung. Er wurde mit 33 zu 10 Stimmen sehr deutlich gefällt, auch die Mitte-Partei trägt ihn mit. Wie lässt es sich erklären, dass dieser Bestrafungswille gegenüber Sans-Papiers heute weit über die extreme Rechte hinaus auf Zustimmung stösst? Das war vor einigen Jahren noch anders.

Bea Schwager: Das ist das, was mich so schockiert. Es wurden in der Vergangenheit schon mehrere Motionen mit ähnlichen Forderungen eingereicht. Aber bis anhin wurden solche Anliegen immer abgelehnt. Dass es jetzt durchgewinkt wurde, macht mich ratlos und ist beängstigend.

WOZ: Dabei bestand in den letzten Jahren durchaus Grund zur Hoffnung. Etwa mit dem Erfolg der Zürich City Card an der Urne, einem Personalausweis für die gesamte Stadtbevölkerung, also auch für Sans-Papiers. Wie geht es damit weiter?

Bea Schwager: Die Stadt lotet derzeit ihren Spielraum aus und klärt, wie sich das umsetzen lässt. Geplant ist meines Wissens, dass Ende Jahr dem Stadtrat ein Vorschlag zur Umsetzung übergeben werden soll.

WOZ: Gibt es noch weitere positive Entwicklungen?

Bea Schwager: Im letzten Juni trat eine Änderung in Kraft, die den Zugang zur Berufsbildung für Sans-Papiers erleichtert. Neu müssen sie statt wie früher fünf nur noch zwei Jahre lang die obligatorische Schule besucht haben, um im Hinblick auf die Berufslehre ein Härtefallgesuch stellen zu können. Dieser Motion haben die eidgenössischen Räte 2022 noch zugestimmt. Die Bundesbehörden änderten bei der Umsetzung der Motion allerdings nichts an der erforderten Aufenthaltsdauer in der Schweiz. Sie beträgt immer noch fünf Jahre. Der tatsächliche Nutzen der Änderung ist also minim.

WOZ: Was würde denn tatsächlich helfen, wenn wir uns jetzt vom rechten Hetzdiskurs abwenden und stattdessen die tatsächlichen Probleme angehen wollen?

Bea Schwager: Ein gutes Beispiel ist das Pilotprojekt der Stadt Zürich, das Sans-Papiers, die nicht krankenversichert sind, Zugang zu stationären Behandlungen im Stadtspital ermöglicht. Die Stadt ist offen für solche Verbesserungen, das freut mich. Es gibt eine Sensibilität und auch einen Willen. Wenn das gegeben ist, sind Fortschritte möglich.

Asylrechtsverschärfungen: Illegalisiert, ruhiggespritzt, ausgeschafft

Das Asylrecht ist stark ausgehöhlt, die Schweiz behandelt Geflüchtete miserabel. Das hindert Behörden und Politik aber keineswegs daran, den Asylschutz immer weiter abzubauen, wie die neusten Beispiele zeigen.

Kurz nachdem das Bundesparlament einen Vorstoss überwiesen hatte, der ein gegen Sans-Papiers gerichtetes Schnüffelsystem schaffen will (vgl. «‹Man würde sie damit in eine Falle locken›»), verabschiedete der Bundesrat vergangene Woche die Botschaft zur Schweizer Beteiligung am neuen EU-Migrations- und Asylpakt. Die Schweiz trägt damit zu einer weiteren Verschärfung der tödlichen Situation an den EU-Aussengrenzen bei. Wird der Pakt zum Gesetz, kommt es auch innerhalb der Schweiz zu drastischen Verschlechterungen für schutzsuchende Menschen. Unter anderem droht Geflüchteten, die über ein anderes EU-Land in die Schweiz einreisen, dauerhafte Illegalisierung.

Fast gleichzeitig hat das Schweizer Staatssekretariat für Migration beschlossen, fortan wieder regelmässig Ausschaffungen nach Afghanistan zu vollziehen. Krieg, Bürgerkrieg, brutale Talibanherrschaft und Foltergefahr? Eine Randnotiz. Hauptsache, die Ausschaffungszahlen sind hoch. Zuletzt hat sich SP-Bundesrat Beat Jans mehrfach mit diesen gebrüstet. 2024 wurden 4738 Menschen gegen ihren Willen ausgeschafft. Dahinter stecken ebenso viele Einzelschicksale, zerrissene Beziehungen und zerbrochene Zukunftspläne.

Die Behörden gehen bei den Ausschaffungen oft brutal und auch immer wieder jenseits der Legalität vor: Suizidale Menschen werden aus stationärer Behandlung in psychiatrischen Kliniken herausgeholt, andere Personen in Länder ausgeschafft, in denen ihnen Folter droht oder sie lebensnotwendige medizinische Behandlungen nicht erhalten. Bei den Ausschaffungen kommt es zu Fesselungen und immer wieder zu Gewalt durch Beamt:innen. Am Erscheinungstag dieser WOZ berät die Staatspolitische Kommission des Nationalrats gar darüber, ob bei Ausschaffungen auch die zwangsweise Verabreichung von Beruhigungs- und Schlafmitteln gesetzlich erlaubt werden soll.