Atomkraft: Wenn der Reaktor baden geht

Nr. 21 –

Vor der nördlichsten Stadt Russlands soll Atomstrom auf einem Schiff produziert werden. Die staatliche Betreiberfirma denkt bereits an die Serienproduktion von mobilen Meilern.

Noch prägt das Geschrei der Möwen den verschlafenen Hafen von Pewek am Polarkreis im Fernen Osten Russlands. Doch bald schon könnten die Vögel von den Arbeiten zur Befestigung der Uferanlagen übertönt werden. Denn dort soll demnächst ein riesiger Lastkahn, die «Akademik Lomonossow», vor Anker gehen. Und auf ihm der Prototyp eines schwimmenden Atomkraftwerks. Im März wurden die Arbeiten zur Befestigung des Küstenteils aufgenommen, an dem der Meiler anlanden soll.

Pewek, logistisches Zentrum für die Goldsuche in der Region, bezieht seinen Strom noch aus dem 250 Kilometer entfernten Atomkraftwerk Bilibino. Doch das soll 2021 vom Netz genommen werden. Und dann, so Sergei Zawjalow vom staatlichen AKW-Betreiber Rosenergoatom gegenüber dem Internetportal gazeta.ru, müsse das schwimmende Kraftwerk mit seinen siebzig Megawatt Leistung Pewek versorgen. Das dürfte kein Problem werden, die beiden Reaktoren, so Zawjalow, könnten eine Stadt mit über 100 000 EinwohnerInnen mit Strom versorgen. Pewek hat gerade einmal 5000. Gleichzeitig räumt Zawjalow ein, dass dafür gute Stromnetze erforderlich seien. Aber hier seien sie derzeit leider in einem «sehr traurigen Zustand».

In Pewek, der nördlichsten Stadt Russlands, trauen sich die BewohnerInnen in den dunklen Wintermonaten nicht ohne Taschenlampe aus dem Haus, weil es nie richtig Tag wird. Das Thermometer kann bis auf 45 Grad unter null fallen. Seit 1989 sind über die Hälfte der einst 12 000 EinwohnerInnen weggezogen.

Ab und zu kommt ein Bär

«Pewek, eine Stadt der Romantiker und Kamillenblüten» steht auf den Bussen von Pewek. Busfahren ist kostenlos. Doch wer hier lebt, dürfte das Leben nur mässig romantisch finden. Es gibt keinen einzigen Baum im Strassenbild. Viel kann man in seiner Freizeit nicht unternehmen. Eine Möglichkeit ist ein Besuch im einzigen «Vergnügungszentrum» der Stadt mit dem sinnigen Namen «Eisberg». Dort kann man Billard spielen, seine Kondition in einem Fitnessklub stärken und ab und zu am Wochenende das Tanzbein schwingen. Wem es im «Eisberg» nicht behagt, für den gibt es noch drei Cafés. Aber nur eines, sagen Ortskundige, sei einigermassen passabel. Ab und zu verirrt sich ein Bär in die Stadt. Dann wird der Katastrophenschutz gerufen, niemand darf die Wohnung verlassen.

Wenn ein Flugzeug landet oder ein Schiff im Hafen festmacht, gibt es wieder frische Ware in den Geschäften. «Obst können wir uns nur am Wochenende leisten», erzählt eine Bewohnerin. Das Leben ist teuer in der Stadt, teurer als in Moskau. Ein Kilo Äpfel kostet gut acht Franken, zehn Eier gibt es für fünf.

In den nächsten Wochen oder Monaten wird die «Akademik Lomonossow» den Hafen von St. Petersburg in Richtung Pewek verlassen. Weil sie als reiner Lastkahn keinen eigenen Motor hat, ist sie auf zwei Schiffe angewiesen: einen Eisbrecher, der den Weg freiräumt, und einen Schlepper. Zwei Atomreaktoren wird der Kahn mit sich führen. Sie sollen für mindestens 36 Jahre auf dem Wasser bleiben.

Zunächst jedoch sind Probeläufe erforderlich. Dafür müssen die Reaktoren direkt auf der Werft in St. Petersburg angefahren werden. Ende Dezember hatte die Werft Baltijski Zawod, die die «Akademik Lomonossow» gebaut hat, erklärt, dass das Schiff nun mit radioaktivem Brennstoff beladen werden könne. 2019 sollen die Arbeiten in Pewek abgeschlossen sein, 2020 der gut 500 Millionen Franken teure Meiler den ersten Strom liefern.

Umweltschützer wie der Atomphysiker Oleg Bodrow kritisieren die geplanten Probeläufe der Reaktoren mitten in St. Petersburg. Der riesige rostbraune Lastkahn, 144 Meter lang und 30 Meter breit, liegt in einem Seitenarm des Flusses Newa, gerade einmal 150 Meter von der nächsten bewohnten Strasse entfernt. Er überragt alle anderen Schiffe im Industriehafen auf der Insel Wasilewski.

Die beiden Reaktoren mit ihren zusammen 70 Megawatt sind eher klein. Konventionelle Atomkraftwerke liefern um die 1000 Megawatt Leistung, selbst der atomar betriebene Eisbrecher Arktis, der derzeit von derselben Petersburger Werft gebaut wird, bringt mit 110 Megawatt mehr Leistung.

Wie im Viersternehotel

Georgi Tichomirow vom nationalen Atomforschungsinstitut Mifi ist vom schwimmenden AKW begeistert. Wer dort arbeite, logiere wie in einem Viersternehotel. Auf der «Akademik Lomonossow» gibt es für die ArbeiterInnen ein Schwimmbad, eine Sauna, einen Fitnessklub, eine Turnhalle. Alle sind in Einzelzimmern mit eigener Dusche und Toilette untergebracht.

Das Atomkraftwerk sei absolut sicher, sagt Tichomirow. Da die Reaktoren im Fall eines Erdbebens oder eines Tsunamis durch eingebaute Stelzen auf dem Wasser nach oben gehoben würden, sei ein Unglück wie in Fukushima ausgeschlossen, zitiert inosmi.ru den Wissenschaftler. Pewek werde mit dem Kraftwerk eine neue Blüte erleben. Wenn die Arktis durch das Abschmelzen der Eisdecke für die Schifffahrt und für die Ausbeutung der dort vermuteten Rohstoffe zugänglich werde, sei die Stadt ein guter Stützpunkt. Tichomirow träumt schon von weiteren solchen Reaktoren: «Sollten in der Arktis Ölvorkommen entdeckt werden, ist es logisch, dass dort dann auch schwimmende Atomkraftwerke zum Einsatz kommen.» Zudem ist vorgesehen, ihren Strom für Anlagen zum Entsalzen von Meerwasser zu nutzen.

Auch Sergei Zawjalow, bei Rosenergoatom zuständig für die schwimmenden Atomkraftwerke, sagt der Stadt Pewek einen Aufschwung voraus. Das schwimmende AKW werde Arbeitsplätze in die Region bringen. Auch die EinwohnerInnen der Stadt scheinen darauf zu hoffen: Am 4. April haben sie in einer öffentlichen Anhörung die Pläne zur Verankerung des Meilers gebilligt.

Die russische Atomwirtschaft erhofft sich von ihrem ersten schwimmenden Atomkraftwerk den Einstieg in einen Zukunftsmarkt. Schon 2010 hatte Walentina Matwienko, die Taufpatin des Lastkahns, damalige Gouverneurin von St. Petersburg und heutige Vorsitzende des Russischen Föderationsrats, von einer «Auferstehung der Atomenergie» gesprochen. Atomenergie sei mobil geworden. In Zukunft könne man so ein Kraftwerk in jede Ecke Russlands entsenden.

Probelauf mitten in der Stadt

UmweltschützerInnen kritisieren den Prototyp dieses Modells. «Mitten in St. Petersburg, mit fünf Millionen Einwohnern die zweitgrösste Stadt Russlands, sollen die beiden Reaktoren für Probeläufe angefahren werden», sagt Raschid Alimow, Direktor für Energieprogramme bei der russischen Sektion von Greenpeace. Nur einen Kilometer von der Werft entfernt sei eine Musikschule für Kinder. Zudem sei ein Kapern des schwimmenden Kraftwerks durch TerroristInnen nicht ausgeschlossen. «Das ist ein Geschenk für Terroristen», so Alimow. «Sollte es nach den ersten Probeläufen einen Terroranschlag auf den Kahn geben, haben wir Plutonium in der Newa.»

Gerade weil schwimmende Atomkraftwerke für schwer zugängliche Gebiete gebaut seien, sei es im Fall eines Unfalls auch schwer, schnelle Hilfe zu schicken. Pewek ist nur aus der Luft und auf dem Seeweg erreichbar. Alle zwölf Jahre, so die Planung, sollen die abgebrannten Atombrennstäbe ausgetauscht werden. Dieser Vorgang dauert mehrere Monate. Alimow fragt sich: «Und was ist in diesen Monaten mit der Stromversorgung der Stadt?»

In St. Petersburg habe es keine öffentlichen Anhörungen zum geplanten Probelauf von zwei Atomreaktoren mitten in der Stadt gegeben, kritisiert der Greenpeace-Sprecher weiter. Ausserdem hätte Russland nach der Espoo-Konvention über grenzüberschreitende Umweltrisiken die Nachbarstaaten informieren müssen. Doch die russischen Behörden sehen das anders. Sie vergleichen das schwimmende Atomkraftwerk mit atomar betriebenen Eisbrechern, und die dürften ohne entsprechende Hearings betrieben werden. Am 6. Februar teilte die russische Atombehörde Rosatom Greenpeace schriftlich mit, dass es nicht notwendig sei, die Anliegerstaaten über den geplanten Transport der Atomreaktoren von St. Petersburg nach Pewek zu informieren. Der finde in internationalen Gewässern statt, auf denen die russische Jurisdiktion und also auch die Espoo-Konvention keine Anwendung finde.

Der St. Petersburger Atomphysiker Oleg Bodrow aber wundert sich, dass bisher kaum Proteste aus Dänemark und Norwegen zu hören sind, schliesslich werde die «Akademik Lomonossow» direkt an Dänemark und Norwegen vorbei Richtung Pewek schippern. Bodrow testete früher Atomreaktoren für U-Boote und weist darauf hin, dass man mit dem Bau eines schwimmenden Atomkraftwerks Neuland betrete. Noch kenne man die Risiken nicht, die von der Produktion von Plutonium mitten in der Arktis ausgehen könnten. Dieses Plutonium soll zunächst auf demselben Lastkahn zwischengelagert werden.

Trotzdem scheint Russland schon jetzt an eine Serienproduktion schwimmender Atomkraftwerke zu denken. Länder wie Malaysia, Südkorea, Moçambique, Namibia, Indien und Vietnam haben bereits Interesse am Kauf gezeigt. Die Atomenergieagentur Rosatom will diesen Ländern weitere Ausgaben des Prototyps von Pewek zum Leasen anbieten (vgl. «Konkurrenz aus China» im Anschluss an diesen Text).

Konkurrenz aus China

Auch China will in den Markt mit schwimmenden Atomkraftwerken einsteigen. Bis 2019 soll der erste Prototyp gebaut sein. Solche AKWs sollen bei der Förderung von Öl und Gas in schwer zugänglichen Gebieten und bei der Entsalzung von Meerwasser eingesetzt werden, berichtet das russische Onlineportal vz.ru. Mittelfristig plane China den Bau von zwanzig schwimmenden Atomkraftwerken.

In den USA hingegen scheint man von dieser Idee Abstand genommen zu haben. Ein kleines schwimmendes Atomkraftwerk, die «Sturgis» mit einer Kapazität von zehn Megawatt, hatte zwischen 1968 und 1975 den Panamakanal mit Strom versorgt. Noch heute bereitet dieser Reaktor den US-amerikanischen Behörden Kopfzerbrechen. 34 Millionen Dollar muss die US-Armee für den Rückbau des Atomreaktors bezahlen, der 2018 abgeschlossen sein soll.