EU-Klimapolitik: AKWs vertragen keinen Krieg
In der Silvesternacht verschickte die EU-Kommission ein gewichtiges Papier: Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke sollen künftig unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich gelten. Noch ist es erst ein Entwurf. Kommt er durch, erhalten die beiden Technologien ein grünes Label. Atomkraftwerke werden wieder als Zukunftstechnologie gehandelt (vgl. «Greenwashing statt Umbau» ).
Da überfällt einen ein Déjà-vu. Es war in den nuller Jahren. Heinz Karrer – bis vor gut einem Jahr Chef des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse – stand zu jener Zeit noch dem Energieunternehmen Axpo vor. Er warnte auf allen Kanälen vor einer drohenden Stromlücke, die spätestens 2015 das Land heimsuchen werde. Er war nicht der Einzige. Die Schweizer Strombranche war beflügelt von der Idee, die angebliche Stromlücke mit neuen AKWs zu schliessen und gleichzeitig die drohende Klimakatastrophe zu bekämpfen. Sie schmiedete konkrete Pläne für ein AKW Mühleberg II, Gösgen II oder Beznau III. Im Kanton Bern stimmte man sogar darüber ab. Das war am 13. Februar 2011, die Bevölkerung sagte Ja. Eine konsultative Abstimmung nur, aber eine knappe Mehrheit fand, sie hätte gerne ein neues AKW vor den Toren der Bundeshauptstadt. Das war ein bitterer Moment für die Anti-AKW-Bewegung.
Zwei neue Meiler hätten in der Schweiz bis 2025 respektive 2027 ans Netz gehen sollen. Das war der feste Plan. Daraus wurde nichts. Keine vier Wochen nach der Berner Abstimmung schmolzen die drei Reaktoren in der japanischen Atomanlage Fukushima durch. Über Nacht lösten sich die Schweizer AKW-Neubaupläne in nichts auf. Was die Anti-AKW-Bewegung nicht geschafft hatte, schaffte die Branche selbst: die Erzählung der klimafreundlichen, sicheren Nuklearanlagen zu pulverisieren.
Nur vergessen Menschen schnell. Wieder soll Kernkraft die Zukunft retten.
Doch wer baut überhaupt? Und warum könnte das gefährlich sein? Mit Olkiluoto lässt sich einiges illustrieren. Die Insel liegt an Finnlands Westküste. 2002 versprach Areva (heute Framatome), dort für rund drei Milliarden Euro ein topsicheres AKW zu bauen – seit vielen Jahren der erste Neubau in Europa. Mit dreizehn Jahren Verspätung geht der Reaktor wohl 2022 ans Netz. Die Baukosten liegen inzwischen bei neun Milliarden Euro. Das AKW ist kein Vorzeigereaktor des französischen Staatsunternehmens geworden. Derselbe Typ wird im französischen Flamanville gebaut. Auch dort mit grossen Verzögerungen und Kostenüberschreitungen.
Im liberalisierten europäischen Strommarkt ist die Nuklearindustrie heute für private Investor:innen kein Business, das zuverlässig Gewinne verspricht. Gebaut wird nur, wo der Staat mitbaut oder den Nuklearstrom subventioniert.
Trotzdem setzen diverse Regierungen auf neue AKWs, insbesondere im Osten. Die Slowakei baut an zwei Reaktoren. Die Tschechische Republik plant zwei, Rumänien und Ungarn ebenfalls. Polens Regierung spricht von vier bis sechs neuen Reaktoren. Die staatliche russische Rosatom hat in Belarus zwei grosse Reaktoren gebaut; der erste ist nach sieben Jahren Bauzeit 2020 in Betrieb gegangen, der andere soll dieses Jahr fertig werden. Rosatom ist zudem daran, in Finnland ein weiteres AKW zu errichten. Die Ukraine stellt mit EU-Unterstützung zwei Reaktoren fertig und plant mit der US-Firma Westinghouse weitere.
Im Osten Europas glaubt man an Nuklearstrom, und sei es nur, weil man davon ausgeht, ihn einmal gewinnbringend an die westeuropäischen Länder absetzen zu können.
Trotz allem hat es auch sein Gutes, dass mit dem Grün-Label-Entwurf der EU-Kommission die nukleare Frage wieder in den Vordergrund gespült wird. In der Ukraine schwelt ein Krieg, der ganz schnell hässliche Dimensionen annehmen kann. Die Ukraine hat aktuell fünfzehn Reaktoren am Netz. Ein kaputt geschossenes Windrad ist ein kaputtes Windrad – ein kaputt geschossenes AKW hingegen ist etwas, das man sich nicht vorstellen will. Atomkraft ist keine Technologie, die Krieg verträgt. Auch nicht die neusten und sichersten Reaktoren.