Sehende Hände: «Jetzt einfach nichts tun»

Nr. 12 –

Seit drei Jahren massieren in einer Winterthurer Praxis ausschliesslich Blinde und Sehbehinderte – mit grossem Erfolg. Der WOZ-Reporter liess sich durchkneten.


Ich betrete den hellen, offenen Raum. Rechter Hand der Wartebereich und vor mir der Tresen des Empfangs. Weiter hinten eine Stellwand, durch die man Stimmen hört und immer wieder Gelächter. Angenehme Geräuschkulisse in wohliger Umgebung. Das Gegenteil von Hektik ist – zumindest hier – nicht absolute Ruhe. Die Praxisleiterin Susanne Schmid begrüsst mich, bittet mich, das Anmeldeformular auszufüllen und kurz Platz zu nehmen.

Ein Mann in weisser Kleidung kommt auf mich zu. Dieser Masseur: sehbehindert? Leichtfüssig bewegt er sich im Raum, wo es an Ecken und Kanten nicht mangelt. Wir begrüssen einander und schauen uns in die Augen. Georg Moser heisst mein Gegenüber. Starre ich ihn etwa an? Ein wenig Unsicherheit bleibt, doch falls er dies bemerkt haben sollte, lässt er es mich nicht spüren. Ich folge Herrn Moser zum Behandlungsraum, und er fragt mich unterwegs, ob ich schon einmal massiert worden sei. «Das ist erst mein zweites Mal», antworte ich. Im Behandlungsraum angekommen mache ich meinen Oberkörper frei und lege mich bäuchlings auf die Liege. Für die nächste halbe Stunde liegt mein Schicksal in Georg Mosers Händen ...

Berufsträume

Neben Georg Moser, 40, massieren in der Praxis Sehende Hände in Winterthur sieben weitere sehbehinderte oder blinde TherapeutInnen. Eine davon ist Silvana Patitucci. Wie auch Georg Moser leidet sie an einer Schädigung des Sehnervs. Sie war acht Jahre alt, als sich die Krankheit anschlich, langsam erst und fast unmerklich. «Meiner Mutter fiel irgendwann auf, dass ich plötzlich Dinge auf dem Tisch mit den Händen gesucht habe.» Jetzt sei die Situation seit Jahren stabil, eingependelt auf tiefem Niveau. Sie könne Konturen erkennen, sagt die 28-Jährige, aber nicht die Augenfarbe, die Nasenform oder die Stellung der Lippen ihres Gegenübers.

Bei Georg Moser fiel der Sehkraftverlust erstmals in der Primarschule auf. Obwohl er zuvorderst sass, sah er irgendwann nicht mehr bis zur Wandtafel. «In der Pubertät kam nochmals ein starker Schub. Der Augenarzt wollte mir meinen Traumberuf ausreden, behauptete, ich würde mir als Koch nur die Finger verbrennen.» Doch der junge Georg hörte nicht auf seinen Arzt. Nach der Ausbildung zum Koch verliess er seine Heimat Österreich und arbeitete in verschiedenen Schweizer Restaurants und Hotels. Zwischen dem zwanzigsten und dem dreissigsten Altersjahr verschlimmerte sich Mosers Krankheit abermals und zwang ihn, sich beruflich neu zu orientieren. Nach drei Jahren Vollzeitausbildung konnte er das Diplom zum medizinischen Masseur entgegennehmen.

«Eine grosse Genugtuung»

Silvana Patitucci wollte Kleinkindererzieherin werden. Nach einem zweijährigen Praktikum begann sie die Lehre, doch dann kamen Zweifel auf: Ist das wirklich das Richtige? Will ich diese grosse Verantwortung tragen? «Es ist nie etwas passiert, ich habe eben doppelt so gut aufgepasst.» Aber was, wenn trotzdem ein Kind verunglücken würde? Auch ohne dass die Sehbehinderung darauf Einfluss gehabt hätte? «Die Eltern der Kinder würden sich wohl fragen: Was macht diese Frau in einem solchen Beruf?» Bei der Laufbahnberatung der Invalidenversicherung empfahl man ihr die Ausbildung zur medizinischen Masseurin. «Es war genau das Richtige», sagt Silvana Patitucci rückblickend.

Die Praxis Sehende Hände erfreut sich nicht zuletzt grosser Beliebtheit, weil die taktilen Fähigkeiten bei Sehbehinderten und Blinden besonders ausgeprägt sind. «Wir Sehbehinderte haben eine andere Wahrnehmung», sagt Georg Moser. «Der Tastsinn ist sehr gut ausgebildet, und wenn auch noch die Empathie dazukommt, dann ist das eine grosse Sache, eine gute Voraussetzung für die erfolgreiche Ausübung unseres Berufs.» Er führe sehr gerne Gespräche während der Behandlungen, erfahre so etwas über die Menschen, ihre Arbeit und ihre Gewohnheiten, was wiederum der Behandlung zugute komme. Oft gewinne er aus solchen Gesprächen neue Erkenntnisse oder Ideen. Eine Art von Weiterbildung durch praktische Arbeit. «Ich glaube», sagt Georg Moser, «dass ich mich gut in andere Menschen hineinversetzen und vielleicht auch deswegen gut Spannungen aufspüren und Schmerzpunkte erfolgreich therapieren kann.»

Silvana Patitucci fügt an: «Wenn man merkt, dass die Kunden weniger Schmerzen haben oder es ihnen nach der Massage auch psychisch besser geht, ist das eine grosse Genugtuung.» Es gebe so viele Leute, die gestresst seien und hierher kämen, um sich zu entspannen und einfach mal vergessen zu können. «Wenn sie mit einem Lächeln aus der Praxis hinauslaufen, ist das wirklich sehr schön.»

Die Zufriedenheit der KundInnen spiegelt sich auch in der konstant wachsenden Zahl regelmässiger BesucherInnen wider. Waren es 2007 noch 170 StammkundInnen, so sind es heute 280.

Schmerzpunkte ertasten

Georg Moser achtet darauf, dass ich optimal liege, und beginnt dann mit der Massage. Er steigert konstant den Druck und erkundigt sich dabei mehrmals nach meinem Wohlbefinden. Ich verspüre keine Schmerzen, doch statt Streicheleinheiten gibt es eine handfeste Massage mit deutlich spürbarem Druck. Ich bin leider noch nicht wirklich locker, lasse nicht vollständig los, obwohl ich weiss, dass das die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist. Georg Moser erzählt von sich, von seiner früheren Arbeit als Koch in verschiedenen Schweizer Kantonen. Er fragt mich, was ich als Ausgleich zu meinem Sitzjob mache. Diese Mischung aus intensiver Massage und lockerer Konversation führt dazu, dass ich mich endlich nicht mehr wehre – auch nicht unbewusst. Ich füge mich dem Lauf der Dinge, gebe mich ganz hin und spüre allmählich eine vollständige Entspannung. Die Grundvoraussetzung für eine therapeutische Wirkung ist gegeben, und ich bin gespannt, was seine Hände bei mir sehen – ertasten – werden.

«Da gibt es schon einige Schmerzpunkte», sagt Georg Moser. Erstaunlich, wie schnell er die verspannten Stellen in der Nackengegend gefunden hat, die mir in der Vergangenheit immer wieder Schmerzen bereiteten. Und dass ich in letzter Zeit davon verschont blieb, sei nicht unbedingt ein Zeichen für Entspannung, klärt mich der Therapeut auf. «Oft weicht der Körper den Schmerzen aus, nimmt eine entsprechende Schonhaltung ein. Er sucht den Weg des geringsten Widerstands.»

Die Praxis Sehende Hände ist keine Sozialfirma, die TherapeutInnen erwirtschaften ihre Löhne ohne staatliche Subventionen (vgl. «Das Pionierprojekt» weiter unten). Das funktioniert in diesem Fall sehr gut, ist aber keine Lösung für alle Handicapierten. Art und Grad der Behinderung spielen eine grosse Rolle, wenn es darum geht, ob Betroffene dem Druck der Privatwirtschaft gewachsen sind und nicht zuletzt ob private Betriebe überhaupt bereit sind, solche Arbeitsplätze anzubieten. Deshalb, so sind sich Georg Moser und Silvana Patitucci einig, braucht es beides: geschützte Arbeitsplätze und solche in der freien Marktwirtschaft. Silvana Patitucci erzählt von ihren Erfahrungen bei der Stellensuche: «Bei Vorstellungsgesprächen hatten die Leute immer Angst, wenn ich sagte: Ich bin sehbehindert.» Sie hätten nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollen. Das kam ihr bekannt vor: Als Kind besuchte sie erst eine Sehbehindertenschule und wollte später in die Volksschule wechseln. «Alle Lehrer hatten Angst davor, eine Sehbehinderte in der Klasse zu haben. Nur einer probierte es dann doch.» Später habe der Lehrer ihr gesagt, dies sei eine seiner besten Erfahrungen gewesen. Auch für Silvana Patitucci war dies eine gute Zeit: «Es ist wirklich super gegangen, auch mit der Klasse.»

Die Zweifel der Personalverantwortlichen bei der Entscheidung, eine sehbehinderte Person einzustellen, könnten nur durch die Praxis ausgeräumt werden, fährt Silvana Patitucci fort. Darauf habe sie bei Bewerbungsgesprächen immer hingewiesen: «Ob das gut kommt, kann man erst nach einer gewissen Zeit sagen. Damit Sie wissen, wie ich arbeite, wo die Probleme sind und wie man das Ganze organisieren muss.» Es nütze nichts, zu sagen, das komme alles bestens. «Denn das sieht man erst im Alltag.»

Praxisleiterin Susanne Schmid stimmt dem zu: «Ich hatte keinerlei Erfahrung mit Sehbehinderten, als ich hier angefangen habe. Aber ich habe gewusst, wo ich fragen kann.» Sie habe sich über technische Hilfsmittel informiert, bei Firmen und Organisationen.

Das Wichtigste aber sei das direkte Gespräch mit den Mitarbeitenden, sie nach ihren Bedürfnissen zu fragen und darauf einzugehen. Dann sei es ganz einfach. Es wäre wirklich keine grosse Sache, sagt Frau Schmid, vermehrt Arbeitsplätze für Sehbehinderte einzurichten. Aber: «Es gibt eine Hemmschwelle, viele denken, man müsse gleich alles ändern. Dabei reicht vielleicht schon ein Vergrösserungsprogramm beim Computer.»

Vom Skeptiker zum Fan

Denn die Arbeitssituation für Sehbehinderte und Blinde ist nach wie vor prekär. Zwar wird im Bereich der Ausbildung viel getan, doch geeignete Stellen gibt es nach wie vor viel zu wenige. Georg Mosers grösstes Anliegen ist denn auch, dass Sehbehinderte nach der Ausbildung Fuss fassen können. Denn was nützen gut ausgebildete Arbeitskräfte, wenn der Markt keine Stellen bietet?

Während Georg Moser weiter praktische Überzeugungsarbeit an meinem Oberkörper leistet, reden wir über die Kosten einer solchen Therapie, die von der Grundversicherung nicht übernommen werden. «Vor allem Männer», sagt Moser, «kaufen sich lieber einen exklusiven Wein oder gönnen ihrem Auto ein teures Motorenöl, als dass sie ihrem Körper Gutes tun.» Auch ich würde wohl ebenfalls eher den edlen Bordeaux wählen. Typisch Mann. Je länger allerdings die Behandlung dauert, umso überzeugter bin ich: Meine Zweifel verschwinden mehr und mehr, lassen sich sozusagen wegmassieren. Vieles könne man mit medizinischer Massage heilen, gerade im Kopfbereich, sagt Georg Moser. «So ein Kopf wiegt schnell mal acht Kilo. Es ist schon speziell: Man hat die Schaltzentrale des Menschen in der Hand.» Er zieht meinen Kopf kräftig seitlich nach oben. Automatisch gebe ich Gegendruck. «Das ist meine Aufgabe!», sagt Georg Moser resolut. «Sie müssen jetzt einfach nichts tun.» Ich gehorche und werde belohnt: Wenig später fühle ich mich berauscht und fast schwerelos, trotz meiner fast hundert Kilo Körpergewicht.

Was denn für ihn das spezielle Ambiente der Praxis ausmache, will ich von Georg Moser wissen. «Schon nur als ich dieses Haus an zentraler Lage zum ersten Mal sah, war ich begeistert. Dann drin: alles ist gross, breit und hell, schön eingerichtet und farblich abgestimmt. Das passt mir. Das hat einfach klick gemacht, und das ist bis heute so.» Es sei der Arbeitsplatz, der es ausmache, dass man sich als Masseur entfalten könne. «Wenn ich in einem Raum bin, der keine Fenster hat, kann die Energie nicht fliessen.» Denn es sei immer Energie im Spiel bei der Massage, auch wenn hier rein schulmedizinisch therapiert werde. Die zufriedenen Leute zeigten ihm immer wieder aufs Neue, wie gut hier alles zusammenwirke.

Die halbstündige Massage ist vorbei, ich bin entspannt und überlege mir, wieder zu kommen. Und als ob er den Wandel in meinem Innern bemerkt hätte, warnt mich Georg Moser: «Es kann süchtig machen. Es gibt Leute, die kommen fast jede Woche zu uns.»




Das Pionierprojekt

Die Winterthurer Massagepraxis Sehende Hände ist ein Selbsthilfeprojekt zur Integration sehbehinderter und blinder Menschen ins Berufsleben. Zurzeit mangelt es weniger an Ausbildungsmöglichkeiten als an Stellenangeboten.

Einige Personen, die beruflich mit Sehbehinderten und Blinden zu tun haben, trafen sich über mehrere Jahre hinweg regelmässig mit Betroffenen und erarbeiteten Vorschläge zur Schaffung von Arbeitsplätzen für Sehbehinderte im sogenannten ersten Arbeitsmarkt. So entstand die Idee einer Massagepraxis, in der ausschliesslich Sehbehinderte und Blinde therapieren. Für die Realisierung wurde der Verein Punktacht gegründet. Punktacht arbeitete für das Projekt mit direkt Betroffenen zusammen, um herauszufinden, was es braucht: genug Kontraste (vor allem bei den Türrahmen), in den Boden versenkte Kabel, grosse Fenster, speziell abgestimmtes Licht. In einem Neubau in der Nähe des Hauptbahnhofes Winterthur liessen sich diese Massnahmen umsetzen. Jeder der vier Behandlungsräume ist genau gleich gross und identisch eingerichtet, sodass sich alle MitarbeiterInnen in jedem dieser Räume zurechtfinden und behandeln können.

Das Projekt stiess auf viel positives Echo, dennoch brauchte es viel Zeit und Überzeugungsarbeit, bis die Finanzierung gesichert war. Sehende Hände erhält als privates Unternehmen keine Gelder der öffentlichen Hand. 2007 wurde die Praxis eröffnet. Damals teilten sich fünf TherapeutInnen ein Stellenpensum von 160 Prozent, heute teilen sich acht TherapeutInnen 350 Stellenprozent. Die diplomierten medizinischen MasseurInnen erhalten branchenübliche Löhne und sind am Umsatz beteiligt. Der behindertenbedingte Mehraufwand wird vorwiegend aus Spenden von privaten Stiftungen finanziert. Mehraufwand entsteht beispielsweise durch Investitionen in Computerprogramme, die Schriften extra gross darstellen können. Oder durch bauliche Massnahmen. Der Trägerverein Punktacht übernimmt das Fundraising für die Praxis Sehende Hände.

Die TherapeutInnen von Sehende Hände behaupten sich erfolgreich im sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Seit der Eröffnung 2007 haben sich Umsatz und die Anzahl Behandlungen pro Jahr mehr als verdoppelt. Sowohl in der Schweiz als auch im Ausland stösst die Idee auf grosses Interesse. Neben den acht blinden und sehbehinderten TherapeutInnen und einem Assistenten arbeiten drei Sehende in der Praxis: Die Leiterin Susanne Schmid und zwei Assistentinnen.

Sehende Hände, Eichgutstrasse 6, Winterthur. www.sehendehaende.ch

Wirtschaft zum Glück

Dieser Artikel ist der sechzehnte Beitrag der WOZ-Serie «Wirtschaft zum Glück», in der wir nachhaltige Produktions- und Eigentumsformen, neue Ideen für eine neue Ökonomie und ökologisch sinnvolle Projekte vorstellen. Finanziert wird diese Serie aus einem Legat des früheren Nachhaltigen Wirtschaftsverbandes WIV.