Durch den Monat mit Rudolf Rechsteiner (Teil 2): Eine SP mit Sex-Appeal?
WOZ: Herr Rechsteiner, die SP hat am Mittwoch ihr neues Parteiprogramm vorgestellt, sie hat sechs Jahre daran gearbeitet. Lohnt sich das?
Rudolf Rechsteiner: Ich kenne den Entwurf noch nicht, aber ich denke, er ist wichtig. Die SP ist eine programmatische Partei, sie hat immer schon ihre Zukunftsprojekte formuliert. Es war auch nötig, die klassenkämpferische Rhetorik hinter sich zu lassen.
Ehrlich? Das Programm strebt die Überwindung des Kapitalismus an.
Das bedeutet ja nicht, dass die Marktwirtschaft per se über Bord geworfen wird. Es geht um Dinge wie gerechte Löhne, Konsumentenschutz oder um das Stakeholdermodell.
Diese Ideen klingen nicht sehr neu.
Wenn Sie Fieber messen müssen, kaufen Sie auch nicht jedes Mal ein neues Fieberthermometer.
Dennoch: Die SP verliert viele Wahlen.
Die SP ist ein bisschen wie eine Kirche, und sie hat wie diese das Problem, dass die Leute heute nicht mehr einfach aus Prinzip mithelfen. Ich hätte mir manchmal gewünscht, dass mehr Parteimitglieder mich begleiten, wenn ich morgens um halb sieben Uhr mit Flugblättern vor dem Bahnhof stand. Die Professionalisierung der Politik hat diese Schattenseite: Die aktive SP besteht heute vor allem aus Mandatsträgern und bezahlten Sekretären.
Ist es nicht naiv anzunehmen, dass man die Leute mit einem Flyer und einem Händedruck überzeugen kann?
Man schüttelt nicht einfach Hände, man braucht überzeugende Projekte. Nachteilig sind dabei die fehlenden Finanzen. Die SVP hat für ihre Kampagnen etwa zehn Mal mehr Geld. Deshalb ist unsere Präsenz auf der Strasse doppelt so wichtig. Und als Politiker der SP muss man auch einiges abgeben – bei mir waren das etwa 10 000 Franken pro Jahr, nach Steuern. Die Gefahr besteht, dass Stadt- und Kantonalparteien zu regierungstreu sind. Gute Ideen werden über die Regierung eingespeist und nicht mehr öffentlich ausgetragen. So verliert eine Partei an Sexappeal.
Ist Christian Levrat der richtige Präsident?
Levrat hat Charisma und besitzt einen hervorragenden politischen Riecher. Er kam gleich am Anfang seiner Amtszeit zu mir und sagte: Ruedi, erneuerbare Energien, dieses Thema kommt bei uns zuoberst auf die Traktandenliste. Er hat eine Urkraft, die ich nicht einmal bei Peter Bodenmann spürte. Von den fünf SP-PräsidentInnen, die ich erlebte, finde ich Levrat am besten. Er hat sowohl menschlich wie strategisch Qualitäten – zum Beispiel, wie er bei den Turbulenzen um die Abzockerinitiative richtig gepokert und die SVP vorgeführt hat. Die Durststrecke der SP wird bald ein Ende haben, da bin ich sicher, und Levrat wird die SP zu grossen Erfolgen führen.
Warum wirkt die SP trotzdem oft so zufrieden und brav?
Wenn die SP in der Exekutive stark ist, haben die Gewählten den Reflex, den Bürgerlichen entgegenzukommen und eine möglichst breite Akzeptanz zu suchen. Häufig ist es dann so, dass man sich erst mal abgrenzt gegenüber der eigenen Partei. Etwa als Bundesrat.
Wie war das bei Ihnen mit Moritz Leuenberger?
Ich hatte ja von Anfang bis Schluss den Moritz. Als ich einmal einen giftigen Artikel darüber schrieb, dass bei der Atomkontrolle niemand richtig hinschaue – der Titel war «Atomwächter oder Hampelmann» –, sprach er ein Jahr lang nicht mehr mit mir.
Wo also steht die SP?
Sie hat die Grabenkämpfe hinter sich gelassen, das ist auch gut so. Man hat beispielsweise im Stromsektor ein pragmatischeres Verhältnis zum Service public und kämpft für sauberen Strom, nicht bloss für gute Arbeitsbedingungen. Zudem sind die Bürgerlichen mit Privatisierungen vorsichtiger geworden. Deshalb gibt es in der SP wenig Ideologie, man ist offen, pragmatischer, routiniert. Man hat sich Richtung Mittelschichten bewegt.
Die Arbeiterschaft wählt heute nicht die SP.
Und trotzdem ist die SP erfolgreich. Es war eigentlich schon immer so, dass die Sozialdemokratie eher die ausgebildete Bevölkerung ansprach.
Warum will man die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr für sich gewinnen?
Ich glaube, solche Versuche haben mehr mit Symbolik zu tun, die im Marxismus gründet, als mit einem echten Bedürfnis. Die meisten Arbeiter haben sowieso kein Schweizer Stimmrecht. Ausserdem: Man kommt bei der Mobilisierung persönlich an seine Grenzen. Ich habe sehr häufig vor ökologisch interessiertem Publikum, Gewerkschaften und akademischen Kreisen referiert, dann kann man nicht gleichzeitig in der Bierbeiz hocken.
Rudolf Rechsteiner (51) ist noch bis Ende Mai SP-Nationalrat. Danach wird er als selbstständiger Berater – unter anderem in Energiefragen – und als Dozent arbeiten. Zudem sitzt er im -Verwaltungsrat der seit Anfang Jahr verselbstständigten Industriellen Werke Basel (IWB) und ist Präsident des Hilfswerks Swissaid.