«Das Rätsel von Paris»: Plaudern für gebildete Leute

Nr. 22 –

In seinem neuen Roman lässt der argentinische Schriftsteller Pablo De Santis zwölf Detektive im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen Kongress abhalten. Dabei werden die Kriminalisten gleich selbst in einen Mordfall verwickelt.


Paris im Frühjahr 1889: Die letzten Vorbereitungen für die Weltausstellung sind im Gange. Es ist bereits die vierte, die in der «Hauptstadt Europas» stattfindet, aber gerade diese wird durch die Errichtung des Eiffelturms ganz besonders in Erinnerung bleiben. Das war auch so beabsichtigt. Denn hundert Jahre nach jener Revolution, die 1789 das Bürgertum an die Macht gebracht hatte, galt es, mit einem Bau der Superlative die industriell-technologische Potenz zu demonstrieren, der dieses Bürgertum seinen wirtschaftlichen und damit politischen Aufstieg verdankte.

Eine Art «Metakrimi»

In diesem Umfeld siedelt der 1963 geborene argentinische Schriftsteller Pablo De Santis seinen neuesten Roman an. Das weckt aus lateinamerikanischer Perspektive zwar grosse Erwartungen, denn Paris galt im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch als heimliche Hauptstadt Lateinamerikas – für politische Modelle ebenso wie für künstlerische und literarische Strömungen. Der Autor nimmt sich allerdings die Freiheit, diesen Teil der Geschichte völlig auszublenden und stattdessen sein Lieblingsgenre zu pflegen, die Kriminalgeschichte. Hat er sich mit Büchern wie «Die Übersetzung» oder «Die Fakultät» bereits einen Namen als Krimiautor gemacht, so kommt ihm nun die Pariser Weltausstellung von 1889 gerade recht für eine grosse Leistungsschau, den «Metakrimi» gewissermassen. Denn wenn sich Stahlkonstruktionen, Glühbirnen und Fotoapparate miteinander messen, warum nicht auch Detektive?

Zu diesem Zweck lässt De Santis die «Zwölf Detektive», einen Klub der Spitzenkräfte aus verschiedenen Ländern, in Paris ein Treffen abhalten. Eine schöne Idee, zumal die zwölf bald in einen eigenen Mordfall verwickelt werden und ihr Können unter Beweis stellen müssen: Einer der Ihren, ausgerechnet der Pariser Starermittler Louis Darbon, stürzt vom Eiffelturm.

Erzählt wird das Ganze von Sigmundo Salvatrio, dem Adlatus des argentinischen Meisterdetektivs. Überhaupt spielen die Beziehungen zwischen den zwölf Chefs und ihren Gehilfen eine grosse Rolle im Roman, und die Gespräche über die Vorzüge von Lupen und Nachteile von Vorannahmen, über die kleinen Pannen und grossen Erfolge machen dieses Buch lesenswert. Mit Anspielungen auf die Heroen der Krimiliteratur wird nicht gegeizt, und wer wissen will, ob das Ermitteln eher einem Puzzlespiel, dem Betrachten eines Vexierbilds oder dem Beschreiben eines weissen Blattes Papier ähnelt, kommt auf seine Kosten.

Ethnische Klischees

Ansonsten ist das Buch eine grosse Enttäuschung. Das liegt zum einen daran, dass der Autor seine Personen nicht zum Leben erwecken kann, sondern als Reflektoren der Literaturgeschichte gebraucht. Kaum eine Figur macht da eine Ausnahme – am ehesten noch Salvatrios Chef Renato Craig, der nicht aus Buenos Aires weg konnte und seinen Assistenten Salvatrio damit in eine günstige Position rückt, halb Gehilfe, halb Stellvertreter. Dann ist da noch der schillernde Arzaky, aber auch der verschwindet zunehmend dort, wo De Santis die anderen Figuren gleich ganz belässt: in den Untiefen trivialen Erzählens.

Das liest sich dann so: Eine Frau räkelt sich verschlafen in einem Hotelzimmer – und Salvatrio ist sofort Feuer und Flamme, was ihn aber nicht daran hindert, gleichzeitig noch gründlich über alles Mögliche nachzudenken. Arzaky wird von einer Kugel getroffen – kann sich aber verblutend noch im Plauderton über die Lösung seines eigenen Falles unterhalten. Auch vor ethnischen Klischees macht der Autor nicht halt: So ist der Assistent des US-Amerikaners ein Siouxindianer, der vor allem stoisch schweigt («... stattdessen reinigte er weiter sein Messer»), die Stimme von Okano aus Japan war «kaum mehr ... als das Rascheln eines Bogens Seidenpapier», und der Deutsche Hatter mit seinem Assistenten Linker ist selbstverständlich ein aggressiv-arroganter Typ.

Wenn schon die theoretisch-essayistische Seite des Romans die Stärke von De Santis sein soll, kann er doch der Verknüpfung zwischen kriminologischer Wahrheitssuche unter den Detektiven und dem positivistischen Wahrheitsanspruch des späten 19. Jahrhunderts, wie er sich in der Weltausstellung manifestiert, nur wenig Saft abgewinnen. Es bleibt bei einigen guten Beobachtungen wie der, dass in Paris vor den Augen der Welt ein Panorama aller für zeigenswert gehaltenen Erscheinungen ausgebreitet wird, diese Erscheinungen aber gerade dadurch ihr unverfälschtes Eigenleben verlieren und künstlich und farblos werden.

Für De Santis’ Kriminalfall am Eiffelturm bedeutet dies jedoch rein gar nichts – der wird mithilfe der gegebenen Methoden brav gelöst. Die ausserordentliche kulturgeschichtliche Bedeutung des Turms, der ohne Inhalt und Funktion einfach nur als Symbol errichtet wurde und als «leeres Zeichen» eine höchst moderne offene Projektionsfläche ist, wird damit reduziert auf ihre banalste und bekannteste Variante: das Werbemittel.

Der Dünkel der Oberschicht

Einige grobe Fehler runden den Eindruck ab, dass hier Qualität eher vorgetäuscht wird. So sind in Paris 1889 sicher keine Autos herumgefahren (wohl ein Übersetzungsfehler von coche/Kutsche), das Puzzle war zu jener Zeit noch kein weltweit verbreitetes Gesellschaftsspiel, und wenn sich damals am Tatort im dichtesten Gedränge wirklich «die Blitzlichter der Fotografen ... über dem Gesicht des Toten» entladen hätten, hätte das wohl massive Verbrennungen zur Folge gehabt. In Paris gibt es keine «Patios», und Tales de Mileto muss in einem deutschen Text Thales von Milet heissen.

Stellt man Pablo De Santis neben Autoren wie Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares, die er gern und oft als seine Leitbilder benennt, dann sieht er entsprechend blass aus. Ihm fehlt deren Konzentration, deren Komplexität auf knappstem Raum, vor allem aber das zeitkritische Bewusstsein. In den «Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi» zum Beispiel, 1942 von Borges und Bioy gemeinsam veröffentlicht, finden sich deutliche Seitenhiebe auf das bornierte argentinische Nationalbewusstsein, auf den Dünkel der Oberschicht und die mit den Achsenmächten sympathisierende Regierung. Juan Domingo Perón soll sich von der Satire dermassen getroffen gefühlt haben, dass die «Sechs Aufgaben» während seiner Regierungszeit bis 1955 nicht wieder aufgelegt werden durften.

Pablo De Santis hingegen wagt zu wenig und springt unter der Latte durch, die er sich selbst aufgelegt hat. Unterhaltungsliteratur für die gebildeten Stände mag für den Moment ganz nett sein, haltbar ist sie nicht.

Pablo De Santis: Das Rätsel von Paris. Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke. Unionsverlag. Zürich 2010. 316 Seiten. Fr. 33.90