Argentinien: Menschen leiden, die Börse boomt

Nr. 49 –

Vor einem Jahr übernahm der rechtslibertäre Javier Milei das Präsidentenamt in Argentinien. Die Inflation ist so niedrig wie lange nicht mehr, doch immer mehr Menschen rutschen in die Armut.

Liliana Cubilla von der Organisation Corriente Villera Independiente mit weiteren Frauen
«Wenn eine Frau mit Kindern in der Schlange steht und ich sie wegschicken muss, bricht es mir das Herz»: Liliana Cubilla von der Organisation Corriente Villera Independiente, die Bedürftige mit Essen versorgt.

Es ist Mittagszeit, und in einer Suppenküche in der Villa 21–24 von Buenos Aires stehen vorwiegend Rentner:innen, Mütter und Kinder Schlange. Als «Villas» werden die Armenviertel in Argentinien bezeichnet. Über fünf Millionen Menschen leben in diesen informellen Siedlungen in selbst errichteten Häusern, von denen die meisten nicht an Strom und Wasser angeschlossen sind. Draussen regnet es in Strömen, und die Strassen verwandeln sich in Flüsse, denn es gibt kein Kanalisationssystem. Zum Mittagessen wird Hähnchen mit Reis serviert. Siebzig Portionen kochen die Frauen der Organisation Corriente Villera Independiente jeden Tag, für mehr reichen die Lebensmittel nicht. Immer wieder müssen sie Bedürftige abweisen. «Wenn eine Frau mit Kindern in der Schlange steht und ich sie wegschicken muss, bricht es mir das Herz», sagt Liliana Cubilla, die hier arbeitet und selbst Mutter eines Fünfzehnjährigen ist. Jeden Tag werde die Schlange länger.

Die Verlierer:innen

Seit einem Jahr ist Javier Milei Präsident von Argentinien. Er trat das Amt mit dem Versprechen an, die Inflation zu senken, und posierte gerne mit einer Kettensäge. Mit dieser wollte er die «politische Kaste» zersägen und die staatlichen Ausgaben beschneiden. Und er hat Wort gehalten: Die Inflation lag im November 2024 bei drei Prozent. Was anderswo Anlass zur Sorge wäre, ist für Argentinien der niedrigste Wert der vergangenen drei Jahre. Vor einem Jahr hatte die monatliche Inflation noch bei dreizehn Prozent gelegen. Auch die Kettensäge brachte Milei wie versprochen zum Einsatz: Seit seinem Amtsantritt hat er die öffentlichen Ausgaben um fast ein Drittel gesenkt. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren gab es einen Haushaltsüberschuss. Gleichzeitig haben die Armutsraten Höchstwerte erreicht: 25 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte aller Einwohner:innen – leben laut Berechnungen des Nationalinstituts für Statistik unter der Armutsgrenze. Die Zahlen beziehen sich auf das erste Halbjahr 2024 und zeigen einen Anstieg um elf Prozent im Vergleich zum zweiten Halbjahr 2023. Seit Mileis Amtsantritt sind bis jetzt rund fünf Millionen Menschen in die Armut abgerutscht.

«Milei hat zwar seinen ausgeglichenen Haushalt erreicht, aber nicht auf die Art und Weise, wie er es angekündigt hat», sagt die argentinische Ökonomin Corina Rodríguez Enríquez. Sie forscht im Nationalen Rat für wissenschaftliche und technologische Forschung (Conicet) zu Care-Arbeit, Armut, Einkommensverteilung und Sozialpolitik. «Statt der sogenannten Kaste Gelder zu entziehen, hat er die Armen bestraft, Sozialleistungen und Renten gekürzt.» Es gebe ein falsches Gefühl der Verbesserung, weil die Inflation niedriger sei als vor einem Jahr. «Auch wenn die Inflation gesunken ist, haben sich die materiellen Lebensbedingungen verschlechtert», sagt die Ökonomin. Die Kaufkraft und die Reallöhne seien gesunken und die Arbeitslosigkeit gestiegen.

demonstrierende Senior:innen in Buenos Aires
Demonstrierende Senior:innen in Buenos Aires. Foto: Miguel M. Caamaño, Imago

In der Villa 21–24 stehen die Bauarbeiten am Kanalisationssystem still, seit Milei die Regierung angetreten hat. «Die Wasserleitungen würden eine grosse Veränderung für unser Viertel bedeuten. Wir haben keinen Zugang zu Trinkwasser, und wenn es regnet, werden wir überschwemmt», sagt Liliana Cubilla. Vor achtzehn Jahren kam sie mit der Hoffnung auf ein besseres Leben aus Paraguay nach Argentinien. Sie spricht mit der Ungerührtheit einer Person, die schon oft enttäuscht wurde. Immer wieder versprechen Regierungen grundlegende Dinge wie Strom und Trinkwasser in der Villa. Mitte 2023 begannen dann endlich die Bauarbeiten an den Wasserleitungen. Aber Milei hat öffentliche Bauarbeiten gestoppt und will das staatliche Unternehmen Ay SA, das für Wasser- und Abwasserdienstleistungen zuständig ist, privatisieren. 2018 starb eine Nachbarin von Liliana Cubilla an einem Stromschlag, als sie nach einem starken Regen mit einem Eimer das Wasser aus ihrem Hausflur schöpfte. Eine gefährliche Elektroinstallation hatte den Stromschlag verursacht.

Obwohl die Armut der Menschen in den Villas auch eine Folge der staatlichen Vernachlässigung ist, machen viele Anhänger:innen von Milei die «Villeros» für die hohen Staatsausgaben verantwortlich. Die Bewohner:innen der Villas werden auch abfällig «Planeros» genannt, weil sie «planes sociales» erhalten, Sozialleistungen. «Potenciar Trabajo» heisst einer dieser Pläne für Sozialleistungen, er wurde von der Vorgängerregierung eingeführt und soll armen Menschen den Einstieg ins Arbeitsleben erleichtern.

Liliana Cubilla und die Frauen der Corriente Villera Independiente erhalten diese Leistung für ihre Arbeit in der Villa. Sie arbeiten im sogenannten informellen Sektor, engagieren sich in der Suppenküche, unterhalten eine Kindertagesstätte und ein Gesundheitszentrum, sammeln und trennen Müll. Denn in der Villa gibt es keine Kindergärten, keinen Krankenwagen und keine Müllabfuhr. Dafür erhalten sie 78 000 Pesos im Monat, etwa siebzig Schweizer Franken. Zum Vergleich: Der Mindestlohn liegt bei 271 000 Pesos im Monat. Milei hat den Plan «Potenciar Trabajo» zwar nicht abgeschafft, aber seit einem Jahr den Betrag nicht erhöht – trotz Inflation.

Die Gewinner:innen

Die einzigen Sozialleistungen, die die Regierung von Milei im vergangenen Jahr an die Inflation angepasst hat, sind das Kindergeld und eine Lebensmittelkarte, die arme Familien erhalten. Corina Rodríguez Enríquez glaubt, dass das ein Grund dafür sein könnte, dass es noch keinen breiten Widerstand gegen die Regierung gibt. Die Zustimmung für Milei ist zwar leicht gesunken, liegt aber immer noch bei über vierzig Prozent. «Diese scheinbare soziale Ruhe wird immer schwieriger aufrechtzuerhalten sein», sagt die Ökonomin. «Die Frage ist, wann die Grenze des Erträglichen erreicht ist.» Sie sei überrascht davon, wie viel die argentinische Gesellschaft aushalte.

Es gibt auch Gewinner:innen von Mileis Politik. Dazu gehören etwa ausländische Unternehmen, die dank seines «Anreizsystems für Grossinvestitionen» Steuervergünstigungen erhalten, etwa in den Bereichen Bergbau, Öl und Gas. Sie werden überdies von Einfuhr- und Ausfuhrzöllen befreit für Projekte, deren Mindestinvestitionsbetrag bei 200 Millionen US-Dollar liegt. Gleichzeitig boomt die Börse: Der argentinische Börsenindex Merval hat sich seit Mileis Amtsantritt verdoppelt, argentinische Aktien und Anleihen steigen konstant. «Die Finanzwirtschaft gewinnt, die Realwirtschaft verliert», fasst es Corina Rodríguez Enríquez zusammen.

Besonders sichtbar ist dieser Widerspruch auf dem Immobilienmarkt in Buenos Aires. Während an vielen Strassenecken neue Häuser gebaut werden, nimmt die Zahl der Obdachlosen zu. Milei hat ein Mieter:innenschutzgesetz abgeschafft, das Mietzinserhöhungen nur einmal im Jahr erlaubte und die Vertragsdauer auf drei Jahre festlegte. Jetzt gibt es auf dem Wohnungsmarkt so gut wie keine Regulierung mehr. Die Vermieter:innen können Vertragsdauer und Periodizität von Mieterhöhungen frei festlegen und die Verträge aufkündigen, wann sie wollen. «Von der Deregulierung profitieren ganz klar die Vermieter zum Nachteil der Mieter», sagt Tamara Lescano. Sie ist Anwältin des Mieter:innenverbands Inquilinos Agrupados und unterstützt Menschen bei Rechtsstreitigkeiten mit Vermieter:innen.

Auch die Miete von Tamara Lescano ist gestiegen: von Mai bis November dieses Jahres von 480 000 auf 750 000 Pesos. Alle drei Monate erhöht ihr Vermieter die Miete. «Die Wohnkosten steigen schneller als die Löhne», sagt sie. Die meisten Anfragen erhält Inquilinos Agrupados von Personen, die ihre Miete nicht bezahlen können. Einer Umfrage der Organisation zufolge sind mehr als sechzig Prozent der Mieter:innen in Argentinien verschuldet. Die Mieten in Buenos Aires sind seit der Abschaffung des Mietschutzgesetzes vierzig bis fünfzig Prozent höher als vorher. Bei sieben von zehn Mieter:innen wird die Miete alle drei bis vier Monate erhöht. «Wir beobachten, dass informelle Mietverhältnisse zunehmen», sagt Lescano. «Immer mehr Menschen ziehen in die Villas. Die Armen, die dort einst ihre Häuser errichteten, vermieten jetzt Zimmer an noch Ärmere. Das ist ein neues Phänomen.»

Die Organisation beobachtet ausserdem eine zunehmende Konzentration auf dem Markt. Es gebe immer mehr Wohnungen, aber immer weniger Eigentümer. «Die Wohnungen werden nicht gebaut, damit sie bewohnt werden. Viele stehen leer. Es ist ein Spekulationsgeschäft», sagt die Anwältin.

Rentner:innen gehen auf die Strasse

Sie pusten in Trillerpfeifen, schlagen auf Kochtöpfe und klatschen in die Hände: Hunderte Rentner:innen protestieren vor dem Kongress in Buenos Aires. Sie laufen eine Runde um das Gebäude herum, umringt von Polizist:innen in schwarzen Uniformen. Jeden Mittwochnachmittag treffen sie sich hier. Im September ging die Polizei mit Pfefferspray, Tränengas und Schlagstöcken gegen sie vor, als sie gegen das Veto demonstrierten, das Milei gegen ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz einlegte, das die Mindestrente erhöhen und so an die Inflation anpassen sollte. Fünfzig Menschen wurden verletzt, zwei verhaftet. Heute bleibt der Protest relativ friedlich, die Polizist:innen schubsen und schieben die Rentner:innen aber immer wieder auf den Gehweg, damit sie den Verkehr nicht behindern.

Portraitfoto von Héctor Cesana
Héctor Cesana, Schauspieler

Der 87-jährige Héctor Cesana ist einer der Protestierenden. Er arbeitet als Schauspieler im Theater und erhält die Mindestrente von umgerechnet etwa 280 Schweizer Franken. «Ich muss weiterarbeiten, die Rente reicht nicht zum Überleben», sagt er. Einer Studie der Universidad Nacional General Sarmiento zufolge leben drei von vier Rentner:innen in Argentinien unterhalb der Armutsgrenze. «Milei ist unmenschlich», sagt Héctor Cesana. «Er hat keinen Respekt für diejenigen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben.» Die Rentner:innen fordern eine Erhöhung der Mindestrente. Die steigenden Mieten führen dazu, dass immer mehr von ihnen zu Obdachlosen werden.

Eine Regierung sei ihrer Ansicht nach erfolgreich, wenn sie langfristig das Leben der Menschen verbessere, sagt die Ökonomin Rodríguez Enríquez. «In dieser Hinsicht ist Milei nicht erfolgreich.» Trotzdem sei es möglich, dass viele Menschen seine Politik als erfolgreich wahrnähmen, weil die Inflation gesunken sei. Viele wünschten sich Stabilität und seien bereit, dafür viel zu opfern. Die argentinische Gesellschaft sei erschöpft und habe Mechanismen entwickelt, um sich an Krisen anzupassen. Gleichzeitig sei die Opposition zu schwach, um einen Widerstand gegen die Regierung anzuführen.

Die Frauen in der Suppenküche in der Villa 21–24 planen das Mittagessen für den nächsten Tag. Einen Eintopf wollen sie kochen. «Wir werden ihn mit Wasser aufgiessen, damit wir mehr Portionen ausgeben können», sagt Liliana Cubilla.