Linke Sommerlager: «Willkommen im Banken-Proletariat»

Nr. 31 –

Die Juso diskutiert im Sarganserland über das neue Parteiprogramm und alte Vordenker. Die Klimabewegung hingegen campt am Zihlkanal zwischen einer Raffinerie, einer Zementfabrik und einer Autobahn.


Stumm und konzentriert lesen sie das «Manifest der Kommunistischen Partei». Es ist Dienstagmorgen. Rund ein Dutzend junger Menschen aus der ganzen Deutschschweiz sitzt mitten in ihren Sommerferien im nüchternen Hörsaal der Ferienanlage Fatima am Fusse des nebelverhangenen Pizols. Eine breite Fensterfront bietet einen grauen Ausblick auf die St. Galler Gemeinden Wangs, Mels und Sargans. Weiter hinten biegt der Rhein in einer scharfen Rechtskurve nach Norden ab.

Die Lektüre des Kommunistischen Manifests gehört zum Pflichtstoff des Workshops «Warum sind wir SozialistInnen? Teil I» (WSWS I), den die Juso Schweiz während ihres Sommerlagers ihren noch unerfahrenen Mitgliedern anbietet. Die erfahreneren JungsozialistInnen sitzen einen Stock höher im WSWS II, wo der italienische Philosoph Antonio Gramsci und seine Ideen ausgiebig behandelt werden.

Zeit für Karl und Friedrich

Die 25-jährige Andrea Arezina aus Baden und der 22-jährige Sascha Müller aus Davos leiten den Grundlagenkurs. Beide verfügen trotz ihres jugendlichen Alters bereits über viel politische Erfahrung. Arezina ist Ko-Präsidentin der Juso Aargau und gehört zum Kampagnenteam der 1:12-Initiative, Müller wurde kürzlich in den Bündner Grossrat gewählt und sitzt in der Geschäftsleitung der SP Graubünden.

Der Kurs beginnt mit einem Ausflug ins feudale Mittelalter und seine strikte Ständeordnung. An dieser Stelle hätte sich ein Blick aus dem Fenster ins nur wenige Kilometer entfernte fürstliche Liechtenstein gelohnt; aber vielleicht ist es noch zu früh für eine Prise Sarkasmus. Überhaupt erstaunt der Ernst und Eifer, mit dem die WorkshopleiterInnen wie auch die Teilnehmenden bei der Sache sind. Das lässt hoffen für den am Nachmittag angekündigten Workshop «Sozialdemokratie wie weiter?». Bald sind das Mittelalter und die Macht der Fürsten abgehakt, jetzt dominiert das Bürgertum, das sich im Zuge der Industrialisierung und Kolonialisierung an die Macht und die Produktionsmittel hievte. Zielstrebig ist man in der Epoche angelangt, in der Karl Marx und Friedrich Engels wirkten. Ein Gespenst geht um im etwas verlotterten Hörsaal.

Die anschliessende Diskussion um die Begriffe Kapitalismus, Klassenkampf, Privateigentum und Zwang zum Wachstum kommt nur schleppend in Fahrt. Lebendig wird es erst, als der Bourgeois und der Proletarier durch Vasella und eine Putzfrau ersetzt werden. «Nichts rechtfertigt, dass die Manager im Durchschnitt 56-mal mehr verdienen als ein normaler Schweizer Arbeitnehmer. Es kann nicht sein, dass uns die Herren in den Chefetagen die Spielregeln diktieren», sagt Arezina mit Nachdruck und ruft alle auf, sich am Unterschriftensammeln für die 1:12-Initiative zu beteiligen – noch fehlen rund 50 000 Unterschriften. «Es ist eine spannende Erfahrung, auf die Strasse zu gehen. Und gar nicht so schwer: Ihr müsst nur das Wort ‹Abzocker› benützen, und schon unterschreibt auch die Hälfte unserer eigentlichen Feinde», übernimmt Müller. Doch noch Gelächter im Hörsaal. Dann ist es Zeit fürs Mittagessen.

UBS, BWL und Juso-Vorsitz

Im Esssaal löffelt ein weiteres Gespenst Kürbiscremesuppe. Cédric Wermuth, Schreckgespenst der Wertkonservativen und Präsident der Juso Schweiz, lässt sich die gute Laune auch von den zwei Journalisten, die sich an seinen Tisch setzen, und einem weiteren, der am Telefon um ein Interview bittet, nicht verderben. «Im Dorf haben sicher einige die Nase gerümpft, als sie hörten, dass wir Sozis unser Sommerlager hier durchführen. Aber wir bleiben nur eine Woche. Nach uns übernimmt die Piusbruderschaft diese Anlage. Auf Dauer», lacht er und serviert wenig später Kaffee. Seit Wermuth an der Spitze der Juso steht, geht es aufwärts mit der Organisation, nicht zuletzt, weil er keinerlei Berührungsängste mit der Presse kennt. Genauso wenig wie mit seinen politischen Feinden. Am Donnerstagabend soll Toni Brunner auf Besuch kommen – und zwar nicht zum Kaffee, sondern zum Streitgespräch mit über hundert Deutschschweizer JungsozialistInnen. (Er habe es überlebt, wird am Montag versichert.)

Die SVP ist zunächst auch das bestimmende Thema am gut besuchten Nachmittagsworkshop «Sozialdemokratie wie weiter?». Dessen Leiter Lukas Horrer, einer der wenigen Hemdträger im Haus, ist zwanzig Jahre alt, Vorsitzender der engagierten Bündner Juso-Sektion und hat just seine Lehre bei der UBS abgeschlossen. Nun möchte er BWL studieren. «Willkommen im Proletariat!», johlt ein Teilnehmer.

Diesmal steht das Gelächter im Hörsaal am Anfang, denn in der Folge zeichnet Horrer ein düsteres Bild rund um den Zustand der Sozialdemokratie: «Die SP spielt keine Rolle mehr an den Familien-, Büro- und Stammtischen», analysiert er. «Die SVP hat vorgemacht, wie es geht. Sie hat es geschafft, die Schweizer Politik in ihrem Sinn zu prägen. In unserer Gesellschaft liegt die Deutungshoheit bei ihr und den Neoliberalen.» Plötzlich platzt einer Teilnehmerin der Kragen: «Müssen wir uns jetzt an der SVP orientieren? Das kann es ja nicht sein!» «Ich dachte auch, hier geht es um uns, stattdessen hören wir nur immer SVP, SVP und SVP», schimpft ein anderer. Das sei nur eine Analyse und eine Anregung für das folgende Gespräch, versucht Horrer die Wogen zu glätten und gibt die entscheidende Frage für die Diskussion vor: «Wie kommen die SP und ihre Ideen in die Mitte der Gesellschaft?» Anders formuliert: Wie rückt man die Gesellschaft nach links?

Ganz sicher nicht mit Simonetta Sommaruga, die zu sehr in der heutigen, von der SVP definierten Gesellschaftsmitte hockt. Das neue SP-Parteiprogramm, das Ende Oktober verabschiedet werden soll, ist nach einhelliger Meinung ebenfalls untauglich – zu zeitgeistig, zu zahm, zu wenig konkret sei es. Dann schon eher mit Antonio Gramsci. Attacke auf die wichtigsten ideologischen Apparate der Zivilgesellschaft also! Aber wie soll man das schaffen ohne Herrliberg-Millionen und Hetzkampagnen? Bald wird klar, es braucht ein längerfristiges Projekt, um die neoliberale Hegemonie zu durchbrechen. «Mehr Demokratie», schlägt Horrer vor, doch sein Vorschlag wird überhört. «Soziale Sicherheit», meint ein Teilnehmer und löst eine Debatte um die Sozialwerke aus. Ein Konsens ist nach einer Stunde nicht in Sicht, ein tragfähiges Projekt auch nicht. Wenigstens hat sich der Nebel gelichtet.

Ein Flugzeug aus Sehnsüchten

Am anderen Ende der Schweiz, am Zihlkanal zwischen dem Bieler- und dem Neuenburgersee, hält gleichzeitig die Klimabewegung ein Sommerlager ab. Das Klimacamp ist vor allem eines: offen. Räumlich, thematisch und auch von den TeilnehmerInnen her.

In der bunten Zeltstadt auf einer grossen Wiese, zu der eine Solarküche, Komposttoiletten, ein markantes Windrad und jede Menge Holz und Stoff gehören, finden am Mittwochmorgen drei verschiedene Workshops statt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Im hinteren Areal bastelt eine Kinderschar unter einem halbrunden Zelt solarbetriebene Schiffe aus Pet-Flaschen und Leichtholz, während eine Mutter an einer alten Nähmaschine sitzt, um aus einem alten Veloschlauch einen Gürtel herzustellen. Am Rande des Geschehens werkelt ein vom Ehrgeiz gepackter Vater mit seinem Sohn an einem Modellflugzeug. Auf die Frage, ob Flugzeuge am Klimacamp nicht verpönt seien, antwortet der Vater lächelnd: «Nicht, wenn sie aus Holz und Sehnsüchten bestehen.» Am anderen Ende des Camps beschäftigt sich eine kleine Runde mit dem Thema «Windenergie mit Zugdrachen». Das Referat ist bereits vorbei, jetzt wird diskutiert. «Wir müssen das Problem mit dem Netz in den Griff kriegen», sagt einer. «Dabei ist in der Schweiz mehr als genug Speicher vorhanden», erwidert ein anderer. Experten unter sich. Eine junge Frau mit Rastazöpfen liegt am Boden und schläft friedlich. Plötzlich ruft ein Teilnehmer: «Oje, es ist ja schon fast zwölf. Ich muss mal nach meiner Familie sehen.»

Im grossen, offenen Zelt nebenan ist der dritte Workshop noch in vollem Gang. Es geht um das bedingungslose Grundeinkommen. Was das mit dem Klima zu tun hat, wissen die Teilnehmenden offenbar selbst nicht so genau. In ihren vorbereiteten Referaten stellen sie sich Fragen wie: Ist das Modell eines Grundeinkommens auch auf Entwicklungsländer anwendbar? Steigt der Konsum von klimaschädigenden Gütern dadurch an? Es scheint, als habe die Idee hinter dem bedingungslosen Grundeinkommen noch nicht ganz gegriffen. Der Leiter des Workshops zeigt sich trotzdem zuversichtlich und verspricht eine baldige Volksinitiative.

Ein junges Pärchen, das seine Velotour eigens für dieses Camp unterbrochen hat, sitzt an der Feuerstelle und freut sich auf das vegane Mittagessen. Etwas abseits steht jene Bäuerin, auf deren Grundstück das Klimacamp aufgebaut ist. Spontan hält sie ein flammendes Plädoyer gegen das geplante Gaskraftwerk in Cornaux am gegenüberliegenden Ufer: «Die Luft hier ist durch die nahe Zementfabrik, die Autobahn und die Raffinerie in Cressier schon schlecht genug. Jetzt noch ein Gaskraftwerk, das wäre eindeutig zu viel. Wir hoffen, mit dem Klimacamp ein Zeichen zu setzen für die Region.»

«Wir sind nicht zufällig gerade an diesem Ort», sagt auch der 34-jährige Matthias Leuenberger, der am Aufbau des Camps beteiligt war. «Natur und fossile Industrie prallen hier aufeinander, das erlaubt es uns auch, konkret aktiv zu werden. Ende Woche wollen wir eine Aktion gegen das geplante Gaskraftwerk auf die Beine stellen. Was für eine, das müssen wir noch gemeinsam ausdiskutieren. Wir wollen die Leute nicht nur informieren, sondern auch zu konkreten Aktionen befähigen.» Der gross gewachsene Leuenberger, der lange Zeit in der Antiglobalisierungsbewegung aktiv war, spricht von einem «zarten Pflänzchen», wenn er sich im Camp umschaut, in dem sich zurzeit etwa vierzig Menschen aufhalten. «Eine echte Klimabewegung sehe ich in der Schweiz noch nicht», sagt er nüchtern.

Eine fünf Meter hohe Eiche

Auch Peter Vogelsanger glaubt, dass der Weg zu einer wirklichen Bewegung noch weit ist. Der einstige Forscher für Solarwärme und Energieeffizienz hat seinen Beruf vor zwei Jahren aufgegeben, um sich voll und ganz als Klimaschützer betätigen zu können. Er schätzt das Klimacamp als «Plattform für den Austausch und die Vernetzung innerhalb der Szene» und dass hier die «Freiheit der Aktion» grossgeschrieben werde: «Es gibt keine autoritären Strukturen, kein Label, keine Organisation, keine Namen. Wichtig sind die Informationen und die Aktionen.»

So wie das Pflanzen von Bäumen auf dem Gelände des geplanten Gaskraftwerks am letzten Samstag, das die TeilnehmerInnen des Camps gemeinsam beschlossen und geplant hatten. «Annähernd siebzig Leute haben sich am friedlichen Protest beteiligt und eine Serie von Weiden sowie – als herausragendes Element des ‹Schutzwaldes› – eine fünf Meter hohe Eiche gepflanzt. Jetzt verhandeln wir mit dem Bauern, der das Grundstück pachtet, wie lange der Wald stehen bleiben darf», berichtet Vogelsanger am Telefon und ist mit dem diesjährigen Camp zufrieden.

«Wir brauchen solche Aufhänger wie das Gaskraftwerk, gerade auch, um lokalen Widerstand aufzubauen.» Es dürfte kein Problem sein, auch für das Klimacamp 2011 einen geeigneten Ort zu finden.