Spitex: Billiger, schneller, einsam
Zunehmend drängen private Anbieter auf den Markt, die die ambulante Pflege billiger machen wollen und die Löhne drücken. Ein Gespräch mit der Sozialanthropologin Susy Greuter über die Situation bei den Spitex-Diensten.
WOZ: Susy Greuter, Sie beschäftigen sich seit einiger Zeit mit dem Thema Pflege. Eine Studie in Deutschland hat soeben festgestellt, dass keine Branche so viele Arbeitsplätze schafft wie die Pflegebranche – zwischen 1996 und 2008 sind im Pflegebereich sechsmal mehr Leute eingestellt worden als in der Gesamtwirtschaft. Gilt diese Entwicklung auch für die Schweiz?
Susy Greuter: Sicher. Allein in der ambulanten Pflege sind in der Schweiz zwischen 2000 und 2008 dreissig Prozent mehr Pflegerinnen und Pfleger nötig geworden. Und der Trend hält an: Ab dem 85. Altersjahr beginnt das sogenannte hohe fragile Alter, ab diesem Alter brauchen die meisten Menschen für gewöhnlich mehr Hilfe, mehr Pflege. Man geht davon aus, dass sich in der Schweiz die Zahl der über 85-Jährigen bis in zwanzig Jahren verdoppeln wird. Es zeichnet sich also ein wachsender Pflege- und Betreuungsbedarf ab.
Immer mehr private Spitex-Organisationen drängen auf den Markt. Erst kürzlich hat die Organisation Spitex privée Suisse geklagt, die privaten Anbieter würden in gewissen Kantonen diskriminiert, weil sie – anders als die öffentliche Spitex – keine staatlichen Gelder erhalten. Der Verband behauptet, die privaten Spitex-Firmen würden den Wettbewerb fördern, wodurch die Leistungen besser und effizienter würden.
Es hat schon immer private Spitex-Anbieter gegeben, die für Wettbewerb sorgten. Sie müssen wie die öffentlichen Spitex-Dienste klare Konditionen erfüllen. Der grosse Unterschied ist: Sie konzentrieren sich vor allem auf die Grundpflege. Sie machen vor allem zweistündige Besuche und sind deswegen bei Langzeitpatienten teilweise beliebter, weil die öffentliche Spitex einer extremen Taylorisierung unterworfen ist.
Was meinen Sie damit genau?
Seit die Spitex jede medizinische Handreiche minutiös abrechnen muss, sind die Pflegenden nur noch kurz bei den Patientinnen und haben kaum Zeit, mit ihnen zu sprechen. Die privaten Dienste haben hingegen mehr Zeit, weil sie vor allem die medizinisch weniger komplexe Grundversorgung anbieten. Sie sind allerdings nicht günstiger, sie zahlen einfach ihre Angestellten extrem schlecht. Das gilt besonders für die privaten Pflegedienste, die neu auf den Markt drängen und profitorientiert sind.
Haben Sie dazu Zahlen?
Die privaten Pflegedienste können ihren Mitarbeiterinnen meist keine festen Pensen garantieren. Fällt ein Klient oder eine Klientin aus, wird die Mitarbeiterin befristet dispensiert, natürlich unbezahlt. Selbst bei einem Vollzeitpensum – was sehr selten vorkommt – erhalten bei den privaten Anbietern diplomierte Krankenpflegerinnen netto zwischen 3700 und 4300 Franken. Die Haushaltshilfen erhalten zwischen 2900 und 3500 Franken netto. Die privaten Hauspflegedienste funktionieren praktisch mit Working Poor oder mit Frauen, die Teilzeit arbeiten und auf das Einkommen nicht angewiesen sind, weil ihre Ehemänner ausreichend verdienen.
Wie viel würde eine diplomierte Pflegerin bei der Spitex verdienen?
Die öffentliche Spitex bezahlt die gleichen Löhne wie für das Spitalpersonal. Der Einstiegslohn für Pflegefachpersonen liegt durchschnittlich bei 5400 Franken – was in Anbetracht der hohen Qualifikation nicht enorm viel ist.
Wie viele Private sind denn schon auf dem Markt präsent?
Dazu gibt es noch kaum Statistiken. Ich habe nur Zahlen über die Stadt Basel. Neben den beiden öffentlichen Spitex-Organisationen gibt es hier 29 private Anbieter, darunter sind viele kleine, gemeinnützige Organisationen. Im letzten Jahr gab es meines Wissens 3 gewinnorientierte private Anbieter, die allerdings nicht nur in Basel, sondern national oder gar international aktiv sind.
Viele ältere Menschen sind unzufrieden mit der Spitex, weil die Pflegenden nur noch an ihnen vorbeieilen.
Sie hetzen tatsächlich an den Patientinnen und Patienten vorbei, seit sie jede medizinische Handlung im Minutentakt abrechnen müssen. Es ist ein Stressjob geworden. Das sieht man auch daran, dass die Fluktuation relativ hoch ist, die Spitex Basel-Stadt verliert beispielsweise jährlich fünfzehn Prozent ihrer Mitarbeiterinnen.
Im Minutentakt abrechnen – wie muss man sich das vorstellen?
Seit 1994, seit das Krankenversicherungsgesetz in Kraft ist, müssen die Krankenkassen für die ambulanten Pflegeleistungen aufkommen und fordern ein striktes Controlling. Die Leistungen werden deshalb nach einer bestimmten Anzahl Minuten abgerechnet, die man im Durchschnitt dafür brauchen darf – zum Beispiel Medikamentenabgabe fünf Minuten, Verband wechseln fünfzehn Minuten, Kompressionsstrümpfe anziehen zehn Minuten. Heute sind die meisten Pflegerinnen mit einer Art mobilen Stechuhr ausgerüstet, in die sie eingeben, welche Pflegeleistung sie gerade erbracht haben.
Früher hat die Gemeindeschwester auch dafür gesorgt, dass der Haushalt in Ordnung ist. Tun das die Spitex-Pflegerinnen nicht mehr?
Es ist ein bisschen komplizierter: Bei der Spitex gibt es zwei Kategorien von Pflegenden und zusätzlich einen eigentlichen Haushaltsdienst. Die Leistungen des Haushaltsdienstes werden aber von den Krankenkassen nicht bezahlt, er ist relativ teuer. Und wegen der Konkurrenz billiger Putzfrauen wurde der Haushaltsdienst der Spitex eher abgebaut. Die Spitex-Pflegerinnen müssen sich sozusagen im Akkord auf die rein medizinische Pflege konzentrieren. Das führt dann eben dazu, dass Spitex-Pflegerinnen nur kurz vorbeikommen, die Leute versorgen und sofort wieder gehen. Da ist es kaum möglich, eine Beziehung aufzubauen. Eine Befragung von älteren Leuten, die zusätzlich zur Spitex auch noch einen privaten Betreuungsdienst angestellt haben, zeigte: Sie leiden unter Einsamkeit, Isolation und Depressionen und nehmen die privaten Dienste vor allem in Anspruch, um eine Bezugsperson zu haben, die ihnen etwas Gesellschaft leistet. In der Stadt Basel hat man das Problem erkannt. Neuerdings werden die medizinische Pflege und der Hauswirtschaftsdienst wieder von einer einzigen Person übernommen – womit die Betreuten eine vertraute Bezugsperson bekommen.
Profitieren davon alle Spitex-Betreuten?
Im Moment nur ein Drittel – vor allem Personen, die finanziell schlechter gestellt sind und Ergänzungsleistungen beziehen, denn mit den Ergänzungsleistungen werden zum Glück auch die gesamten Spitex-Kosten abgedeckt.
Wird es so nicht teurer?
Doch, selbstverständlich. Weil der Haushaltsdienst nicht mehr von Spitex-Pflegerinnen übernommen wird, sondern von schlechter ausgebildetem und vor allem schlechter bezahltem Personal, konnte die Stadt Basel ihre Spitex-Kosten um 14,2 Prozent senken. Klingt gut, doch niemand hat darüber nachgedacht, dass dann auch unzählige Personen weniger verdienen. Das kann ja nicht das Ziel sein.
Warum ist es so schwierig, im Pflegebereich anständige Löhne hinzubekommen?
Erstens gibt es dieses unsägliche «Benchmarking» – man versucht, sich nach den Besten zu richten. Aber wer sind die Besten? Die Spitex wird ja mit öffentlichen Geldern subventioniert, weshalb die Gemeindeparlamente mitreden können. Und da kommt immer wieder die Frage auf: Wieso kann unsere Spitex nicht so günstig sein wie die Spitex in der Nachbargemeinde XY? So gibt es einen Wettbewerb nach unten, weil sich alle an den Gemeinden orientieren, die am knappsten kalkulieren.
Und zweitens ...?
... ist es ein doppeltes Frauenthema: In den Spitex-Diensten arbeiten fast nur Frauen, und siebzig Prozent der Spitex-Kundschaft sind weiblich. Ab 75 ist jede zweite Frau alleinstehend, bei den Männern trifft dies erst ab 90 zu – oder anders ausgedrückt: Frauen pflegen ihre älteren Partner bis ins hohe Alter und sind dann, wenn sie einmal selber gebrechlich sind, auf familienexterne, bezahlte Hilfe angewiesen.
Und so werden alte Frauen zur angeblichen Hypothek für kommende Generationen.
Genau. Das hängt mit den geltenden Wertvorstellungen zusammen. Kinder erhalten zum Beispiel das Dreissigfache an Betreuung, Pflege und Zuwendung verglichen mit dem, was man alten Menschen zukommen lässt. Dass Kinder viel Zuwendung erhalten, ist richtig. Doch unsere Gesellschaft fokussiert auf Leistung und Innovation und negiert den Wert des Alters – obwohl wir, wenn wir Glück haben, alle alt werden.
Die Basler Sozialanthropologin Susy Greuter befasst sich als Mitglied des linken Thinktanks Denknetz seit geraumer Zeit mit dem Thema Care-Ökonomie und der Frage, wie Pflegeleistungen organisiert werden. Für das demnächst erscheinende «Denknetz-Jahrbuch 2010» hat sie unter dem Titel «Langzeitpflege, Service public und der Druck der Ökonomisierung» einen Beitrag zum Thema verfasst.
Die Spitex
Dem Spitex Verband Schweiz gehören rund sechshundert lokale Spitex-Organisationen an, die 210 000 KlientInnen versorgen und rund neunzig Prozent der ambulanten Pflege abdecken. Der Rest wird von freiberuflichen AnbieterInnen und kommerziellen Pflegediensten übernommen.
Gemeinden und Kantone subventionieren die Spitex. Ihr rechtlicher Status ist jedoch je nach Kanton unterschiedlich geregelt; fast überall ist sie aus der öffentlichen Verwaltung ausgegliedert – das heisst, dass die lokalen Spitex-Dienste die öffentlichen Subventionen jährlich neu beantragen und aushandeln müssen.
Die Dienste sind auch unterschiedlich gut ausgebaut: Während in den meisten Deutschschweizer Kantonen 0,9 bis 1,5 Vollzeitstellen pro tausend EinwohnerInnen zur Verfügung stehen, stellen Basel-Stadt, Bern und alle Westschweizer Kantone (ausser Freiburg) 2 bis 3 Vollzeitstellen pro tausend EinwohnerInnen zur Verfügung.
Die Krankenversicherungen kommen für die medizinische ambulante Pflege auf. Das macht allerdings nicht sehr viel aus, verursacht die Spitex doch nur zwei Prozent der Gesamtkosten der obligatorischen Krankenversicherung.