«Trotzki als junger Revolutionär»: Leo Trotzki und der Kehrichthaufen

Nr. 35 –


Die Stimmung war geladen im Smolny-Institut in Petrograd, wo der Zweite Allrussische Rätekongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten im Herbst 1917 Sitzung hielt. Die Abgeordneten verschiedener sozialistischer Fraktionen aus ganz Russland diskutierten hitzig das weitere Vorgehen. Die Bolschewiki um Lenin sahen die Zeit für einen Umsturz gekommen. Sozialrevolutionäre und Menschewiki sprachen sich gegen ein übereiltes Vorgehen aus und verliessen aus Protest den Saal. «Ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt», rief ihnen der Vorsitzende nach: «Schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte.»

Flüssig und anschaulich

Der Deputierte, der dieses Urteil fällte, war Leo Trotzki – ein feuriger Revolutionär, brillanter Redner, gewiefter Theoretiker des Marxismus und neben Lenin wohl die zentrale Figur der Russischen Revolution und eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts überhaupt. Er sollte recht behalten: Die Oktoberrevolution, an deren Vorabend der Kongress tagte, sollte sich tatsächlich als epochenmachende Zäsur in die Annalen der Weltgeschichte einschreiben. Auch Trotzkis eigener Stern war im Aufsteigen begriffen: 1917 wurde er erster Aussenminister Sowjetrusslands, 1918 baute er als Kriegsminister die Rote Armee auf und führte sie 1920 im Bürgerkrieg zum Sieg. Die Rolle der zögernden Sozialrevolutionäre und Menschewiki dagegen verblasste.

Das ist alles schon lange her. Vor zwanzig Jahren war es die bankrotte Sowjetunion selbst, die auf dem «Müllhaufen der Geschichte» landete. Trotzkis Schicksal besiegelte sich noch früher: Stalin wollte auch Jahre, nachdem Trotzki im Machtkampf gegen ihn unterlegen war und Russland hatte verlassen müssen, den Tod seines ehemals gefährlichsten Gegenspielers. Am 21. August 1940 erlag Trotzki im mexikanischen Exil den Verletzungen, die ihm durch einen von Stalin gesandten Attentäter zugefügt worden waren.

Brandaktuelle Grundsätze

Aber gehört nicht Trotzki selber schon längst auf den von ihm beschworenen Kehrichthaufen? Dagegen argumentiert Jürg Ulrich, emeritierter Professor für Neuropathologie am Universitätsspital Basel, in seiner populärwissenschaftlichen Trotzki-Biografie, die kürzlich neu aufgelegt wurde. Sehr flüssig und anschaulich beschreibt Ulrich den Lebensweg des Revolutionärs. Über seine Rolle als Staatsmann, der nach der Revolution als kalter Machtmensch versucht, seine theoretischen Konzepte auf die sowjetische Wirklichkeit anzuwenden und dabei tragisch scheitert, erfahren wir leider nur im Epilog.

Das Ziel von Ulrichs auf sympathische Weise persönlich gehaltener Studie ist es, «jungen politisch interessierten Menschen die Entwicklung sozialistischer Ideen und Bewegungen» zu zeigen und sie «über ein Stück Geschichte [zu] informieren, das meiner eigenen Generation von Sozialisten (Jahrgang 1930) selbstverständlich war». In dieser Absicht gründet wohl auch der etwas lehrbuchhafte Duktus, in dem das Werk zuweilen gehalten ist – mit dem Ulrich aber auch einen verständlichen, soliden und undogmatischen Einblick in die marxistische Theorie und in Trotzkis Konzept der permanenten Revolution bietet. Grundsätze wie der, dass sich die Produktionsweise «nicht mehr durch den grösstmöglichen Profit, sondern durch das menschliche Bedürfnis leiten lassen» sollte, damit sich die Gesellschaft aus dem «unheilvollen Zyklus von Konjunktur und Krise» befreien kann, bleiben jedenfalls brandaktuell. Problematisch erscheint allerdings, dass Ulrich seine Erzählung stark auf Trotzkis autobiografischen Schriften stützt und diese nicht immer mit der gebührenden Kritik hinterfragt.

Die eindeutige Stärke Ulrichs ist seine Fähigkeit, Trotzkis Lebenslauf in die gesellschaftlichen und politischen Strömungen seiner Zeit einzubetten. Seine lesenswerte Studie belegt jedenfalls eindrücklich, dass Geschichte – jenseits der kurzfristigen Wahrnehmung ihrer «Sieger» oder «Verlierer» – mehr Fundgrube als Müllhaufen ist.

Jürg Ulrich: Trotzki als junger Revolutionär. VSA-Verlag. Hamburg 2010. 160 Seiten. Fr. 29.50