Durch den Monat mit Leo Scherer (Teil 2): Was hat Ihnen an Trotzki imponiert?

Nr. 32 –

Warum sich Leo Scherer als Jugendlicher für die trotzkistische Linie entschied. Wie er als Jusstudent zum unbezahlten Berufsrevolutionär wurde. Und wann er den Glauben an den grossen Umsturz verlor.

Leo Scherer
Leo Scherer: «Trotzkis Grundidee war: Die Revolution muss permanent weitergehen, weltweit.»

WOZ: Leo Scherer, 1970 traten Sie als Siebzehnjähriger mit Ihrem älteren Bruder aus der katholischen Jungwacht aus und wurden durch die Internationale der Kriegsdienstgegner:innen (IDK) politisiert. Wie reagierten Ihre Eltern darauf?

Leo Scherer: Unsere Mutter fand das erst schlimm. Eines Tages aber merkte sie: Die leben ja trotzdem auf eine anständige Art. Auch unser Vater war eher skeptisch – fand aber doch interessant, was wir machten. Mit ihm konnte man gute Streitgespräche führen.

Und wieso der Entscheid für den Trotzkismus?

Wir hatten in unserer Aargauer IDK-Sektion Exponent:innen verschiedener kommunistischer Organisationen zu Gesprächen eingeladen. Die Trotzkist:innen der Revolutionären Marxistischen Liga (RML) schienen mir schlicht die intelligentesten. Und im Gegensatz zu den anderen waren sie klar antistalinistisch.

Diese innerlinke Differenz wirkt ja bis heute …

Oh ja, zum Beispiel in den Diskussionen um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Für mich galt schon damals: Kolonialismus ist Kolonialismus, egal ob von den USA oder von Russland. Und dazu gehörte auch der zaristische Imperialismus, den die bolschewistische Partei unter Stalin reproduzierte.

Was hat Ihnen denn an Trotzki so imponiert?

Seine theoretischen Schriften – und seine konkrete Politik. Er war Vorsitzender des Arbeiterrats von Petrograd. Eine Oktoberrevolution ohne ihn wäre unmöglich gewesen. Und vor allem hatte er ein paar sehr gute Ideen.

Zum Beispiel?

Dass eine Revolution permanent sein muss. Seine Grundidee war: Wir beginnen hier, das ist die Initialzündung. Aber das muss permanent weitergehen, weltweit – erst so haben wir eine Chance auf eine gute Revolution auch bei uns. Wobei Permanenz in diesem Kontext auch bedeutet, dass jedes noch so sozialistische System neue Hierarchien schafft – und immer wieder von unten her revolutioniert werden muss. Das waren ja die grossen Debatten, nachdem man 1922 den Bürgerkrieg gewonnen hatte: Zurück zur Rätedemokratie – oder weiter mit dem Kriegskommunismus? Nur: In diesen fünf Jahren Krieg war der grosse Teil der Bolschewiki draufgegangen. Der Rest war zaristisch geprägt. Ja, es ist übel gelaufen.

Und wie sah der Alltag eines Jungtrotzkisten fünfzig Jahre später in der Schweiz aus?

Nach der Matura 1973 ging ich zuerst mal in die Rekrutenschule.

Keine Verweigerung?

Aber nein, da glaubten wir ja noch an die Revolution! Dafür brauchte es auch die Soldaten. Wir gründeten Soldatenkomitees. Als mich der Leutnant fragte, wie ich es mit Weitermachen sehe, sagte ich: «Wäre ich Zugführer wie Sie, und es gäbe einen Einsatzbefehl wie 1932 in Genf, als Rekruten antifaschistische Demonstranten erschossen, würde ich meinen Leuten sagen: ‹Umdrehen und auf die schiessen, die sagten, wir sollen auf die anderen schiessen!›» Damit war die Sache gegessen.

Und nach der RS?

Um über die Runden zu kommen, machte ich Stellvertretungen als Primarlehrer. Und als ich an der Uni eingeschrieben war, bekam ich Stipendien. Primär war ich aber eine Art unbezahlter Berufsrevolutionär. Viel Geld brauchte ich nicht. Unsere WG hatte neben der NZZ die «Rouge» der französischen Trotzkist:innen und die «Inprekorr», die «Internationale Pressekorrespondenz», abonniert. Da war man international vernetzt. Auch die Kontakte zu den alten Trotzkist:innen in Zürich waren hochspannend. Das war wie eine Ersatzuni.

Offiziell studierten Sie aber Jura.

Ja, sie haben mich trotzdem zugelassen.

Warum «trotzdem»?

Fürs Jusstudium in Zürich brauchtest du da noch ein Leumundszeugnis von deinem Wohnort. Darin stand dann, dass nichts Nachteiliges über mich bekannt sei – ausser dass ich eine öffentliche Einwohnerratssitzung in Wettingen gestört hätte.

Aus welchem Grund?

«Tulpensepp», ein stadtbekannter SVP-Bock, hatte zuvor einen Stand unserer RML-Jugendorganisation Maulwurf abgeräumt. An der Einwohnerratssitzung kritisierte ich das von der Tribüne aus als Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit. Ich habe mir die Freiheit genommen, von Anfang an öffentlich revolutionärer Marxist zu sein. Bei jedem Flugblatt musste der Name eines presserechtlich Verantwortlichen darauf stehen. Ich war x-mal drauf. Ein Klandestiner war ich nie.

Aber Sie durften studieren.

Ja, wobei ich fast nie an der Uni war. Das Lizenziat machte ich hauptsächlich im Selbststudium.

Und glaubten weiter an die Weltrevolution?

Immer weniger. Spätestens ab 1983, als sich die RML bereits Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) nannte, wussten wir: Das mit der Revolution in der Schweiz war eine grandiose Fehleinschätzung. Von da an suchten wir andere Wege …

Leo Scherer (70) präsidierte von 2011 bis 2023 den Förderverein ProWOZ. Davor arbeitete der Jurist unter anderem als Kampagnenleiter bei Greenpeace Schweiz.