Demokratietheorie: Prekär sind wir alle

Nr. 9 –

Die Philosophin Isabell Lorey hat ein Kompendium zu den queerfeministischen Aufständen der jüngeren Vergangenheit verfasst. Darin erklärt sie, wie Sorgebeziehungen neue demokratische Horizonte eröffnen können.

2020 hob nicht nur ein Virus die Welt aus den Angeln, es war auch ein Jahr heftiger sozialer Auseinandersetzungen. Gerade Frauen waren weltweit zu Hunderttausenden auf den Strassen, um ihre Rechte zu verteidigen, die während der Pandemie unter zusätzlichen Druck geraten waren.

Zuletzt gingen FeministInnen in Polen auf die Barrikaden, wo eine basisdemokratische Bewegung ein von der rechtskonservativen Regierung geplantes striktes Abtreibungsverbot zu verhindern versucht. Die Proteste gewannen über den Herbst und Winter eine solche Dynamik, dass manche BeobachterInnen von revolutionsartigen Zuständen im osteuropäischen Land sprachen. Rasch wurde zudem klar, dass es den empörten Polinnen nicht allein um Reproduktionsrechte, sondern auch um eine radikale Neubewertung der von ihnen geleisteten Sorgearbeit geht.

So gesehen kann Isabell Loreys Buch «Demokratie im Präsens» zu kaum einem besseren Zeitpunkt kommen. Die Ende 2020 erschienene Studie der politischen Theoretikerin, die an der Kunsthochschule in Köln Queer Studies lehrt, ist ein philosophisches Kompendium zu den queerfeministischen Streiks und Demonstrationen, die nun schon seit Jahren von Lateinamerika über Spanien und die Schweiz bis nach Indien für Aufsehen sorgen. Im Buch arbeitet sie heraus, in welche Sackgassen die liberale, repräsentative Demokratie geraten ist, und erläutert, was das mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen zu tun hat. Vor allem aber zeigt Lorey, wo in heutigen Kämpfen insbesondere von Frauen eine bessere Zukunft für alle aufscheinen könnte.

Umkämpfte Regierungsform

«Demokratie im Präsens» wartet allerdings mit Thesen auf, die auch linke LeserInnen provozieren könnten. Vom Linkspopulismus à la Chantal Mouffe hält Lorey wenig – für Mouffe seien «soziale Bewegungen nur relevant, wenn sie sich als Parteien formieren». Auch Diagnosen, die den Aufstieg rechtsnationaler Kräfte einfach mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich erklären wollen, würden zu kurz greifen. «Autoritär-populistische Positionen entstehen inmitten des Bürgertums, in der Mittelschicht, nicht einfach an sogenannten gesellschaftlichen Rändern», so Lorey. Überhaupt dürfe man es sich nicht zu einfach machen mit der Krisenerzählung.

Lorey zufolge ist die liberale Demokratie nicht einfach nur im Augenblick, sondern prinzipiell in der Krise. Sie sei «nie die Verwirklichung der besten aller möglichen Regierungswelten» gewesen, schreibt die Theoretikerin. Was sich in der Gegenwart krisenhaft zuspitze, sei vielmehr die jüngste Evolutionsstufe «einer immer schon umkämpften Regierungsform».

Diese Thesen erinnern an die Diskussionen des vergangenen Sommers, als anlässlich des Bildersturms der Black-Lives-Matter-Bewegung vereinzelt darauf hingewiesen wurde, dass auch manche Koryphäe aus der Ahnenreihe der Aufklärung – etwa der Liberale John Locke, der am Sklavenhandel mitverdiente – rassistisch dachte und handelte. Solche historischen Fingerzeige mögen moralisierend daherkommen, unterstreichen aber, dass die Moderne nicht nur ein Projekt der Befreiung, sondern mit dem Ausschluss sehr vieler Menschen kompatibel war: «Freiheit als Privileg» nannte das der italienische Kommunist Domenico Losurdo einmal.

Lorey geht in ihrer Zergliederung des Liberalismus jedoch philosophisch subtiler vor, Theoriebrocken wie Jacques Derrida oder Walter Benjamin zählen zu ihren Gewährsleuten. Schon zu Beginn ihrer Studie führt sie sechs konzeptuelle Widersprüche auf, die die liberale Demokratie in die Dauerkrise bringen. Dazu zählt die «vergeschlechtlichte Trennung zwischen einer öffentlichen und einer privaten Sphäre», die Entstehungsbedingung liberaler Demokratie sei, zugleich aber die Ausbeutung von Sorgearbeit leistenden Frauen festschreibe. Oder auch die Idee der Volkssouveränität, die einen einheitlichen Willen des «Volkes» unterstelle und Demokratie nationalstaatlich begrenzt konzipiere.

Das maskulinistische Individuum

Viel dieser Kritik verdichtet sich im Begriff des Individuums, das Dreh- und Angelpunkt liberaler Theorie ist. Diese denkt die Einzelnen als Atome, die erst einmal nichts miteinander zu tun haben, ehe sie aufeinanderprallen, um eine Gesellschaft zu bilden. Theoriegeschichtlich wurde diese enorm wirkmächtige Gedankenfigur häufig attackiert: Mit Karl Marx liesse sich etwa danach fragen, ob denn ein solcher Ansatz nicht systematisch Klassenverhältnisse ausblende und damit Gesellschaft in kapitalfreundlicher Weise verkläre.

Lorey erweitert diese Perspektive, indem sie das «Individuum» im Anschluss an frühere feministische Arbeiten als «maskulinistischen» Begriff kennzeichnet. Die Vorstellung, Gesellschaft basiere einfach auf selbstbestimmten Einzelnen, verkenne nämlich «die sozialen und ökologischen Dimensionen des Lebens» und gehe einher «mit einer bestimmten Vorstellung von weisser besitzender Männlichkeit, die unabhängig ist von Anderen und von Sorgeverhältnissen». Wer mit lauter autonomen Individuen also einen Staat machen will, setzt immer schon stillschweigend die ins «Private» verdrängte Arbeit voraus, die zu Hause meist von Frauen unbezahlt geleistet wird.

Sorgestreik und Solidarität

Lorey nimmt gerade diese wechselseitigen Sorgebeziehungen als Ausgangspunkt, um Demokratie neu zu denken. Hierzu knüpft sie an die vom italienischen Philosophen Antonio Negri bekannt gemachte Idee der «Multitude» an. Die verstreuten Vielen, die diese Multitude bilden, werden im Liberalismus nämlich als affektgesteuert und unpolitisch ebenfalls verdrängt: Bei Klassikern wie Thomas Hobbes dienen sie vor allem als Schreckgespenst einer noch nicht gebändigten Menge, die bloss den Rohstoff bildet zum souveränen, also wiederum männlich konnotierten, «Volk», das sich dann in Institutionen bereitwillig repräsentieren lässt.

Das mag abstrakt klingen, allerdings haben basisdemokratische und feministische Kämpfe vorgeführt, wie eine Politisierung der Sorgebeziehungen in der Praxis aussieht. An Aktionstagen wie dem 8. März haben Frauen die Strategie des Sorgestreiks dazu gebraucht, «das Prekärsein, die Abhängigkeit jeden Lebewesens von Sorge und Reproduktion» sichtbar zu machen, wie Lorey schreibt. Das bedeutet auch, die Verletzbarkeit und das Verschuldetsein jedes Einzelnen anders zu denken, nämlich nicht als Makel und angeblich typisch weibliche Eigenschaften. Vielmehr ist uns die Idee der Solidarität gleichsam in unsere Körper eingeschrieben: Wir alle stehen immer schon in der Schuld anderer.

Eine solche neue politische Grammatik wirft zudem ein anderes Licht auf die Schuldenkrise in Südeuropa; auch das ein Anliegen Loreys, dem sie sich in «Demokratie im Präsens» ausführlich widmet. In Spanien forderten nicht nur soziale Bewegungen «eine echte Demokratie jetzt!» jenseits des liberalen Repräsentationsprinzips, es machte sich auch ein kämpferischer Feminismus lautstark bemerkbar. Während der Eurokrise hatte die deutsche Kanzlerin einst die gewissenhaft kalkulierende «schwäbische Hausfrau» zum Ideal der Sparpolitik erklärt. Gut möglich, dass die Wahl dieses Bildes mehr verrät, als man zunächst glauben mag. Neue demokratische Horizonte im Hier und Jetzt dürften sich jedenfalls weniger den braven Heimchen am Herd erschliessen als den widerspenstigen Vielen, die gerne über ihre Verhältnisse leben und auf rigide Geschlechteridentitäten pfeifen.

Isabell Lorey: Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart. Suhrkamp Verlag. Berlin 2020. 217 Seiten. 32 Franken