Der Bundesrat und die Linke: Das Ende der Konzilianz

Nr. 39 –

Eine Abbruchvorlage bei den Sozialversicherungen jagt die nächste. Da besetzt die rechte Mitte auch noch alle wirtschaftlich entscheidenden Departemente. Über Lach-, Wut- und Mutanfälle.


Wenn Politiker zu grinsen beginnen, ist Vorsicht geboten. Das weiss die Schweiz spätestens seit Hans-Rudolf Merz, dessen andienendes Lächeln im Lauf seiner Karriere für die UBS zum steifen Grinsen gefror (ehe es sich letzte Woche in einem Lachanfall entlud). Im Abstimmungskampf um das Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) begann auch Doris Leuthard zu grinsen. Und ihre Mimik wurde, von der «Arena»-Sendung bis zum Urnengang, immer herablassender und hämischer: gegenüber Arbeitslosen und wirtschaftlich schwächeren Landesteilen. Gegenüber Versicherungsschutz und Umverteilung.

Man hätte es sich denken können, dass sich hier eine gerade aufputscht.

Der knappe Ausgang der AVIG-Abstimmung mit 53,4 Prozent Ja-Stimmen ist für die GegnerInnen, die Gewerkschaften und linken Parteien ein Achtungserfolg. Die Umfragen waren von einer Zustimmung von zwei Dritteln ausgegangen. Und doch ist die Annahme höchst bedenklich. Im Frühling konnte der Angriff auf die Pensionskassen noch abgewehrt werden – schliesslich wäre die Mehrheit von den Rentenkürzungen betroffen gewesen. Am Sonntag fiel die Zustimmung zum Sozialabbau desto grösser aus, je tiefer die Arbeitslosenquote ist: In der Steueroase Appenzell Innerrhoden war sie am höchsten.

«In Richtung Putsch»

«Eine Krise der Solidarität» sieht Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner im Resultat. Wohl sei es auf den ersten Blick einleuchtend, dass die Haltung zum Leistungsabbau von der eigenen Betroffenheit abhänge. Auf den zweiten Blick werfe diese «enge Interessenbindung» allerdings grundsätzliche Fragen auf. Rechsteiner: «Das elementare Prinzip der Solidarität, die Basis jeder Sozialversicherung, wird verletzt, wenn am Schluss nur die persönliche Interessenlage zählt.»

Genau dieses dumpfe Verhalten zugunsten eigener Interessen zeigte am Montag auch die Departementsverteilung im Bundesrat. Zuerst riss sich Doris Leuthard das Infrastrukturdepartement Uvek unter den Nagel. Darauf wechselte Eveline Widmer-Schlumpf ins Finanzdepartement. Dass sie dabei nicht nur individuellen Neigungen, sondern einer politischen Strategie folgten, zeigte sich bei der Verletzung des Anciennitätsprinzips: Statt Simonetta Sommaruga erhielt Johann Schneider-Ammann das Volkswirtschaftsdepartement, per Mehrheitsentscheid.

«Dieser Vorgang», sagt SP-Nationalrat Andrea Hämmerle, «ist gravierend. Es geht fast in Richtung Putsch.» Mit dem Departement des Innern, das bei Didier Burkhalter bleibt, verfügen die Mitteparteien über die vier ökonomisch und sozialpolitisch entscheidenden Departemente. «Die SP», sagt Hämmerle «wird marginalisiert.» Seit 1959, also seit die Partei mit zwei Sitzen im Bundesrat vertreten ist, verwaltete sie stets ein Schlüsseldepartement – wobei es dem Blick der Zeit unterliegt, was als solches gilt. Das Uvek beispielsweise gewann in den letzten Jahrzehnten, durch Umweltschutzanliegen wie durch Privatisierungsvorhaben, stark an Bedeutung.

«Die Personen sind definitiv weg. Das Programm ist noch da», schrieb die WOZ im Rückblick auf die Ära Blocher und Merz (siehe WOZ Nr. 32/10). Nun folgt eine nächste Phase. Die Interessen sind die alten: Es sind jene von Economiesuisse. Vor dem Sommer erhob der Wirtschaftsdachverband Anspruch auf das Uvek. In einem Bericht mit dem unverfänglichen Titel «Netzinfrastruktur» wurden die nächsten Privatisierungsschritte skizziert: bei der Eisenbahn, bei der Post, beim Strom.

Neu ist lediglich die Durchschlagskraft: Die Mitteparteien, die bloss über dreissig bis vierzig Prozent Wähleranteile verfügen, kontrollieren fast die gesamte politische Macht. Es ist quasi die Wiederkehr des freisinnigen Mehrheitsstaates. Er nennt sich neu «Allianz der Mitte» und wird von einer AKW-Lobbyistin aus dem Aargau angeführt.

Oder übertreibt die SP einfach? Hat Christian Levrat, der Schachspieler, für einmal eine naive Taktik gewählt, und erklärt dies seinen Wutausbruch nach Bekanntgabe der Departementsverteilung? Was sagen die Grünen, deren Verhältnis zur SP nach der mangelhaften Unterstützung bei der Bundesratswahl angespannt ist? «Die Departementsverteilung ist tatsächlich problematisch», bestätigt der linksgrüne Nationalrat und Historiker Jo Lang. «Die Konkordanz, die seit 1959 herrschte und die kein Rechenspiel war, sondern eben gerade die Machtverteilung meinte, ist endgültig gebrochen.» Lang weiter: «Es geht nicht darum, was falsch gelaufen ist. Sondern darum, welches die richtigen Schlussfolgerungen sind.»

Mehr Wutanfälle

Der Montag war das «Gurtenmanifest» von 2001 im Rückwärtssalto: Die Fusion von sozialdemokratischen und neoliberalen Ideen scheiterte in dem Moment, als mit der Konsumentenschützerin Sommaruga deren Hauptvertreterin an die Macht kam. Ihre Versetzung ins Justiz- und Polizeidepartement EJPD ist trotzdem unerfreulich, weil in der Bankenkritik auf sie Verlass ist. Das wussten die Bürgerlichen.

Am Montag ist eine linke Politik, die auf Konsens und Konzilianz baut, gescheitert. Und vielleicht ist gerade das die einmalige Chance, die sich der Linken bietet: Sie wurde förmlich aus der Verantwortung weggesprengt. Levrats Wutanfall, selbst wenn er in machtpolitischer Enttäuschung gründete, war ein toller Auftakt. Lieber mehr Wut- als noch mehr Lachanfälle. Und dieses ständige Grinsen.

Drei weitere Beobachtungen: Die «Allianz der Mitte», bestehend aus CVP, FDP und BDP, fährt seit Monaten einen radikalen Konfrontationskurs. Sie macht keine Kompromisse, sei es beim UBS-Staatsvertrag oder bei der Departementsverteilung. Die Forderungen der angeblichen Mitte, ob bei den Sozialversicherungen oder der Bankenregulierung, liegen dabei weit rechts. Die parteipolitische Annäherung zwischen CVP und BDP scheint weit fortgeschritten, das erklärt das Vorpreschen von Eveline Widmer-Schlumpf: Gemeinsam will man sich zwei Bundesratssitze sichern.

Und die SVP? Sie wird diesen Freitag beweisen müssen, dass sie mehr ist als der fremdenfeindliche Stimmenlieferant des neoliberalen Projekts. Dann wird im Nationalrat über die 11. AHV-Revision, den nächsten Angriff auf die Sozialwerke, entschieden. Fünf Jahre lang hat sie die SVP während der Beratungen mitgetragen. Nun hat Milliardär Christoph Blocher seiner Fraktion den Auftrag erteilt, die Vorlage zu versenken. Angeblich, weil sie einen Sozialausbau bedeute. Dabei will er bloss ein Referendumsgeschenk an die Gewerkschaften im Wahljahr verhindern: Von den Rentenkürzungen wäre seine ältere Wählerschaft betroffen. Ob die SVP diesmal dem Druck der rechten Mitte standhält?

Am Montag hat eine zeitlich befristete Regierung ihr Amt angetreten. Mit ihrem ersten Entscheid hat sie das Wahljahr 2011 bereits eröffnet. Es könnte ein buntes, wildes Jahr werden. Andrea Hämmerle sagt: «Wir werden der neuen Uvek-Chefin auf die Finger schauen. Eine Abkehr etwa in der Verlagerungspolitik von der Strasse auf die Schiene ist gegen uns nicht durchzusetzen. Und wir werden befreit auftreten, weil wir nicht mehr gross in die Regierungsverantwortung eingebunden sind.» Jo Lang meint: «Die SP muss erkennen, dass die Grünen ihr natürlicher Bündnispartner sind. Weil die Bundesratsbeteiligung im Wahlkampf sowieso ein Thema sein wird, könnte man es auch zusammen angehen. Mit der Formel 2+1: für zwei Bundesräte der SP und einen der Grünen.»

Mehr Mutanfälle

Am 28. November kommt mit der Ausschaffungsinitiative die nächste Ausgrenzungsvorlage zur Abstimmung. Gleichzeitig wird aber auch über die Steuergerechtigkeitsinitiative abgestimmt, mit der eine Debatte über die Solidarität beginnen könnte.

Und Simonetta Sommaruga im Justiz- und Polizeidepartement? Vielleicht könnte sie es ja wieder zu einem Schlüsseldepartement machen: Die Verletzungen der Gewaltenteilung, die Anwendung von Notrecht und die grassierende Fremdenfeindlichkeit als neoliberales Unbewusstes: Die Zeit spiegelt sich in diesem Departement sehr wohl. Von hier aus liesse sich erst recht über Solidarität reden.

Simonetta Sommaruga unterstützt den Gegenvorschlag zur Ausschaffungsinitiative. Er will dasselbe wie die Initiative, nur etwas konsumentenfreundlicher. Doch wenn seit Montag Schluss sein soll mit der Anbiederung, wie wäre es dann – mit der Legalisierung von Sans-Papiers? Eine solche Forderung, von einer Bundesrätin erhoben, wäre schöner als jede Rache und besser als jeder Lach- und Wutanfall. Das wäre mutig.

Nachtrag vom 7. Oktober 2010 : Abbruch gestoppt

Wird die SVP dem Druck der rechten Mitte standhalten und die 11. AHV-Revision ablehnen? Das war die Frage, die sich letzte Woche stellte. Die SVP hielt ausnahmsweise stand – am Freitag lehnte der Nationalrat die Vorlage in der Schlussabstimmung deutlich ab. Die Revision hätte real tiefere Renten, ein höheres Rentenalter für Frauen und bloss eine ungenügende Frühpensionierungsmöglichkeit gebracht.

Überhaupt ist es der Linken mit wechselnden Allianzen gelungen, den Abbruch bei den Sozialversicherungen in der Herbstsession vorerst zu stoppen: Bereits eine Woche zuvor wurde die Revision des Unfallversicherungsgesetzes mit den Stimmen des Gewerbes an den Bundesrat zurückgeschickt. Diese Revision hätte auf Druck der Privatversicherungslobby höhere Prämien in der Grundversicherung bedeutet – und den Privaten mehr Geschäftsmöglichkeiten bei den Zusatzversicherungen eröffnet. Peter Lauener, Pressesprecher des Gewerkschaftsbundes SGB, zieht erfreut Bilanz: «Es zeigt sich, dass ohne die Gewerkschaften keine Kompromisse zu machen sind.»

Nur bei der Arbeitslosenversicherung, ausgerechnet bei jener Vorlage, welche die Schwächsten im Erwerbsleben trifft, sind die Bürgerlichen ans Ziel gelangt: Die Stimmbevölkerung nahm am 26. September eine Kürzung der Taggelder knapp an. Entgegen seinem Versprechen im Abstimmungskampf will der Bundesrat mit der Kürzung nicht bis nach dem Ende der Krise warten: Sie erfolgt bereits auf den 1. April 2011. Damit entfällt der Krisenartikel. Dieser ermöglichte es bisher, dass in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit 520 statt 400 Taggelder ausbezahlt werden. Der SGB befürchtet, dass im Frühling 15 000 Arbeitslose ausgesteuert werden. Das wird besonders die Westschweiz treffen. Peter Lauener sagt: «Der Bundesrat muss gemäss Verfassung die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Mit der schnellen Inkraftsetzung bekämpft er jedoch die Arbeitslosen.» Die Auseinandersetzungen um eine solidarische Schweiz gehen also weiter: Nächster Schauplatz ist die 6. IV-Revision.

Kaspar Surber