Asylreport (2): Kriminalisierung: Der Hund beisst sich in den Schwanz

Nr. 28 –

Kriminelle Ausländer überfüllen unsere Gefängnisse, sagt die Rechte und ruft nach weiteren Gesetzesverschärfungen. Dabei könnte eine Entkriminalisierung der Flucht Abhilfe schaffen.

Als Flüchtling ist es nicht schwer, in der Schweiz kriminell zu werden. Wer kein Visum hat und unregistriert einreist, macht sich grundsätzlich der illegalen Einreise schuldig. Kann die Person triftige Gründe für die illegale Einreise plausibel machen und stellt sie ein Asylgesuch, kann der zuständige Kanton zwar auf eine Anzeige verzichten – nicht alle Kantone halten sich jedoch daran. Wer sich nach einem Nichteintretens- oder negativen Entscheid nicht an die gesetzte Ausreisefrist hält, kann wegen illegalen Aufenthalts mit Gefängnis bestraft werden. Am Ende steht die Ausschaffungshaft.

Die Schweizer Behörden sollten sich deshalb nicht darüber wundern, dass ihre Gefängnisse voll sind. Diese weisen derzeit einen Belegungsgrad von hundert Prozent aus. Die Anzahl Häftlinge ist zwischen 2002 und 2014 von knapp 5000 auf mehr als 7000 gestiegen. 2002 zählte man 69 Häftlinge pro 100 000 EinwohnerInnen, 2014 waren es bereits 88. Ein grosser Teil dieser Zunahme gehe auf die Zunahme von kurzen unbedingten Freiheitsstrafen zurück, sagt die Kriminologin Natalia Delgrande, die sich unter anderem im Auftrag des Europarats mit der Überbelegung europäischer Gefängnisse befasst. Von den kurzen Freiheitsstrafen (zwischen ein und sechs Monaten) gingen wiederum zwischen 2013 und 2014 gut 66 Prozent auf das Konto von Verstössen gegen das Ausländergesetz. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik.

Verstösse gegen das Ausländergesetz beinhalten neben der illegalen Einreise sowie dem rechtswidrigen Aufenthalt auch Schwarzarbeit, die Schleusung über die Grenze, die Erleichterung des rechtswidrigen Aufenthalts, sogenannte Scheinehen, die Beschäftigung von AusländerInnen ohne Bewilligung sowie die Missachtung eines Rayonverbots. Ein kurzer Blick auf die Liste zeigt: Menschen, die gegen das Ausländergesetz verstossen, gefährden damit niemanden. Sie begehen ein Delikt ohne Opfer.

Mit Abstand am meisten Verurteilungen gibt es für illegalen Aufenthalt. Es ist also die blosse Anwesenheit des Flüchtlings, die einen Rechtsbruch darstellt. Dafür gibt es eine Gefängnisstrafe.

Mehrfache Verurteilungen

Rechtsanwalt und Migrationsexperte Marc Spescha kritisiert, dass die Verurteilungen für Verstösse gegen das Ausländergesetz von den Staatsanwaltschaften (per Strafbefehl), aber auch von den Gerichten teilweise leichtfertig gesprochen würden. Einige seien rechtlich schlicht unhaltbar. 2012 entschied das Bundesgericht, dass eine Verurteilung wegen illegalen Aufenthalts nur dann zulässig ist, wenn eine Ausschaffung in das Herkunftsland überhaupt möglich ist. Zudem müssten die zuständigen Behörden alle Mittel ergriffen haben, um eine solche durchzuführen. Die Ausschaffung muss zudem am «unkooperativen Verhalten» des Flüchtlings gescheitert sein. Das ist etwa dann der Fall, wenn dieser untertaucht, eine falsche Identität angibt oder bei der Beschaffung seiner Papiere die Hilfe verweigert. Mit derselben Begründung können die Behörden einen Flüchtling auch in Ausschaffungshaft sperren.

«Die Rechtsprechung des Bundesgerichts», sagt Spescha, «ist bei vielen Behörden noch nicht angelangt.» Das bedeute, dass immer wieder Menschen wegen Verstoss gegen das Ausländergesetz inhaftiert würden, obwohl die verwaltungsrechtliche Voraussetzung nicht erfüllt sei. «Wenn aber nicht Rekurs erhoben wird, werden diese Fehlentscheide auch nicht korrigiert.»

Das Urteil des Bundesgerichts ist insbesondere für Flüchtlinge wichtig, die von der Nothilfe leben. Es sind Flüchtlinge, deren Asylgesuche abgelehnt wurden oder auf deren Gesuche gar nicht erst eingetreten wurde. Ausreisen können viele dennoch nicht – sei es, weil sie keine Papiere haben, weil ihre Identität nicht restlos geklärt ist oder weil ihr Herkunftsstaat die Einreise verweigert. In ein anderes europäisches Land können sie auch nicht reisen, da sie sich damit erneut strafbar machten und von dort gemäss Dublin-Verordnung umgehend in die Schweiz zurückgeschickt würden. Sie befinden sich in einer Sackgasse.

«Es ist unhaltbar, Leute, die sich in dieser Situation befinden, zu verurteilen», sagt Denise Graf von Amnesty International. Amnesty seien nicht wenige Fälle bekannt, in denen dieselben Leute mehrmals pro Jahr wegen illegalen Aufenthalts für jeweils drei Monate ins Gefängnis mussten. «Das ist absurd!», sagt Graf. Amnesty International fordert, dass die Schweiz damit aufhört, MigrantInnen zu kriminalisieren.

Fragwürdige Verhältnismässigkeit

Marc Spescha verweist darauf, dass die Gefängnisstrafe im Schweizer Strafrecht als Ultima Ratio gilt, als letztes Mittel – für den Fall, dass sich alle anderen möglichen Massnahmen als unzureichend erweisen. Gemäss dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit wäre es in Fällen, die AusländerInnen betreffen, oft zwingend, zunächst eine bedingte Geldstrafe auszusprechen, so Spescha. Gerade Menschen, die von der Nothilfe leben (je nach Kanton sind das 4.30 bis 12 Franken pro Tag), haben jedoch oft nicht das Geld, um eine Busse zu bezahlen. Und wer nicht bezahlen kann, landet früher oder später im Gefängnis. «Eine Lösung des Problems illegalisierter Aufenthalte wäre auch dies nicht», räumt Spescha ein. Die Wirkung von Strafdrohungen sei in solchen Fällen ausserordentlich begrenzt.

Die Rechnung ist einfach: Ein Land, das Asyl- und Ausländergesetze immer mehr verschärft, legale Einreisemöglichkeiten zunehmend beschränkt, Fluchtgründe oder das Recht auf Familiennachzug immer weiter einschränkt und Rekursfristen verkürzt, kriminalisiert immer mehr Menschen. So erhöht sich die AusländerInnenquote in den Gefängnissen – was wiederum der Polemik über die «kriminellen Ausländer» Vorschub leistet. Darauf wird mit einer weiteren Verschärfung der Gesetze reagiert. Der Hund beisst sich in den Schwanz.

Kein Mensch, der flüchten will, wird sich von den Gesetzen im Zielland davon abhalten lassen. Die Menschen kommen sowieso. Die Frage ist, wie wir mit ihnen umgehen. Wir können unsere Gefängnisse mit ihnen füllen. Oder wir können die Delikte ohne Opfer und damit auch die Menschen, die sie begehen, entkriminalisieren und ihren Aufenthalt regularisieren.

Restriktives Asylgesetz

In den letzten zehn Jahren wurde das Asylgesetz kontinuierlich verschärft. Die wichtigsten Änderungen: Seit der Teilrevision von 2005, auch «Lex Blocher» genannt, wird auf ein Asylgesuch nicht mehr eingetreten, wenn innert 48 Stunden keine gültigen Identitätspapiere vorgelegt werden können. Wer einen solchen Nichteintretensentscheid erhält, bekommt anstelle einer Sozialhilfepauschale nur noch Nothilfe. Zudem wurde die maximale Dauer der Ausschaffungshaft von einem auf zwei Jahre verlängert.

2008 wurde auch die Sozialhilfe für abgewiesene Asylsuchende gestrichen: Sie dürfen nicht mehr arbeiten und erhalten stattdessen ebenfalls Nothilfe. 2013 wurde per dringlichem Bundesbeschluss das Botschaftsasyl abgeschafft. Seither können nur noch humanitäre Visa beantragt werden. Die Hürden, ein solches zu erlangen, sind jedoch viel höher: Bei Personen, die sich bereits in einem «sicheren Drittstaat» befinden, wird davon ausgegangen, dass keine Gefährdung mehr besteht.

Zudem werden Desertion und Verweigerung des Wehrdienstes nicht mehr als Fluchtgründe anerkannt.