Néstor Kirchner (1950–2010): Der unterschätzte Machtpolitiker

Nr. 44 –

Aufklärer, gewiefter Stratege und verkannter Held – Argentiniens früherer Präsident Néstor Kirchner war eine Schlüsselfigur im Gefüge der südamerikanischen Linken und politisierte eine ganze Generation.


Letzte Woche kam es im Präsidentenpalast von Buenos Aires zu denkwürdigen Szenen: Zehntausende zogen am Sarg von Néstor Kirchner vorbei, um Abschied zu nehmen. Abends machte Venezuelas Staatschef Hugo Chávez Kirchners Witwe Cristina Fernández, der amtierenden Staatspräsidentin, die Aufwartung. Kurz danach kam Luiz Inácio Lula da Silva aus Brasilien. Chávez, Lula und Kirchner gelten als die drei wichtigsten Architekten von Südamerikas «Linksruck» der Nullerjahre.

Auch die ArgentinierInnen wissen genau, wen sie da verloren haben. «Niemand hat so viel für unser Viertel getan wie die Kirchners», sagte eine Bewohnerin der grauen, endlos wirkenden Aussenbezirke der Hauptstadt. Dennoch verspürt die Rechte – auch innerhalb Kirchners peronistischer Partei – bereits Auftrieb. Die Finanzmärkte reagierten nach Kirchners Tod euphorisch: An der New Yorker Börse legten die Aktienkurse argentinischer Konzerne deutlich zu. Jeder mögliche Nachfolger wäre «marktfreundlicher» als die Kirchners, sagte ein Analyst. Würde jetzt gewählt, gewänne Cristina klar. Doch es sind Zweifel angebracht, ob sie ohne den begnadeten Machtpolitiker Néstor 2011 nochmals gewählt wird.

«Hugo, hör auf mit dieser Sozialismusgeschichte», soll er einmal zu Chávez gesagt haben. Der Anwalt Kirchner, ein Kind der hochpolitischen siebziger Jahre, hielt an vielen seiner linken Grundüberzeugungen fest, war aber kein Dogmatiker. Als Präsident reformierte er den obersten Gerichtshof, wechselte die Armeeführung aus und trieb die Aufarbeitung der Militärdiktatur (1976–1983) konsequent voran.

Für den Machterhalt war Kirchner allerdings auch bereit, mit den übelsten Vertretern der Peronistenmafia wie dem CGT-Gewerkschaftsboss Hugo Moyano Bündnisse einzugehen. Als Staatschef ab 2003 und als Schattenpräsident seit 2007 verstand er es, mit Gespür und Geld Loyalitäten herzustellen. Und auch Freundschaften zu opfern, wenn er meinte, sie stünden seinem Projekt im Wege. Dass die Kirchners vor drei Jahren die Präsidentschaftsnachfolge unter sich ausmachten, passt ins Bild.

Doch Kirchners Politik stand auch für eine soziale Wende im Land. Anstatt die Polizei auf Streikende oder Protestierende zu hetzen, wie dies seine Vorgänger taten, ging Kirchner auf die rebellische Basis mit Sozialprogrammen zu. «Sie sollen alle abhauen», skandierten die aufgebrachten Massen gegen Eliten und Regierende 2001 nach dem finanziellen und sozialen Bankrott des Landes. Heute trauern viele von ihnen um Kirchner. Sie lieben den Polarisierer, weil er und Cristina sich 2008 mit den GrossbäuerInnen des Landes anlegten, die im Gegenzug monatelang alles stilllegten. Populär an der Basis sind auch die anhaltenden Auseinandersetzungen mit den Medienkonzernen, deren Vermögen teilweise aus der Zeit der Diktatur stammen.

Kirchner hat zudem die argentinische Jugend stark politisiert. Doch dass er nun im Schnellverfahren ins Pantheon argentinischer HeldInnen wie Evita Perón und Ernesto «Che» Guevara aufgestiegen ist, liegt vor allem an seiner Wirtschaftspolitik. Bis zuletzt betrachtete er diese als Chefsache – manchmal unorthodox, meist aber sehr pragmatisch. So brachte Kirchner die Wirtschaft des gebeutelten Landes wieder auf die Beine, sorgte für sozialen Ausgleich, machte Privatisierungen aus der neoliberalen Ära der neunziger Jahre rückgängig und ärgerte mit protektionistischen Massnahmen die AnhängerInnen des Freihandels. Dabei mehrten die Kirchners ganz nebenbei auch ihr eigenes Vermögen.

Den Antiimperialismus der sechziger Jahre goss Néstor Kirchner in eine zeitgemässe Form. Zumindest ist es radikaler, sich mit InvestorInnen und dem Internationalen Währungsfonds anzulegen, als abstrakt auf die USA zu schimpfen. Eines seiner grössten Verdienste jedoch bleibt, 2005 zusammen mit Lula und Chávez die geplante Freihandelszone von Alaska bis Feuerland – das Lieblingsprojekt der USA und der Multis – endgültig begraben zu haben.

Erst vor einem halben Jahr war Kirchner zum Generalsekretär des Staatenbunds Unasur gewählt worden, doch in dieser kurzen Zeit hatte er bereits zwischen dem neuen kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos und Chávez erfolgreich vermittelt und Ende September angesichts des drohenden Putschs in Ecuador in Rekordzeit einen Sondergipfel einberufen. Kirchner wird fehlen.