«Musik aus dem Nichts»: Vom alten Theremin zum Sampling

Nr. 45 –

Der Musiker und Elektronikpionier Bruno Spoerri dokumentiert in einem Buch die Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz seit 1900: eine gelungene Rettung für Informationen aus der Zeit vor der mengenmässigen Explosion.

Am 13. Februar 1929 kündigte die «Züricher Post» unter der Überschrift «Eine Sensation jagt die andere» eine Veranstaltung im Kino Capitol an: «Heute: Das Weltwunder ‹Musik aus der Luft›». Zwei Künstler aus Berlin – wahrscheinlich Martin Taubmann und Hans Küssner – traten mit einem Theremin-Instrument auf.

Der Physiker Lew Termen (1896–1993) hatte das Instrument, das berührungsfrei gespielt werden kann, 1919 entwickelt und in St. Petersburg und Moskau der Öffentlichkeit vorgestellt. Termen siedelte Jahre später in die USA über, nannte sich Leon Theremin und erhielt 1929 ein Patent auf seine Erfindung, die später als Theremin bekannt wurde. Am Anfang der elektronischen Musik standen also Erfindungen, die erst zögerlich für die Musik nutzbar gemacht und von KomponistInnen in ihr Schaffen einbezogen wurden.

Von 1900 bis heute

Im von Bruno Spoerri herausgegebenen Buch «Musik aus dem Nichts – Die Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz» wird die Geschichte seit den Anfängen um 1900 bis heute sorgfältig referiert. Spoerri hat den etwas unscharfen Oberbegriff «elektroakustische Musik» gewählt, um Werke einbeziehen zu können, die analoge Quellen verwenden, etwa computergesteuerte mechanische Schreibmaschinen oder Sirenen.

Von Spoerri stammt auch der grössere Teil der Texte des Buches, das in «Geschichte: Analog», «Geschichte: Digital» und «Streiflichter: Heute» gegliedert ist. Zwischen die Chronologie der elektroakustischen Musik sind zwölf ausführliche Porträts von Komponisten gesetzt, darunter finden sich Namen wie Armin Schibler, Thomas Kessler und Spoerri selbst. Es werden aber auch Aussenseiter wie Jim Grimm oder der Turntableartist Christian Marclay dargestellt. Die wichtigsten technischen Entwicklungsschritte von der Tonaufzeichnung bis zum digitalen Synthesizer werden in Einschüben erläutert oder mit den Komponistenporträts verknüpft.

Spoerri ist gleichzeitig Pionier und Zeitzeuge der Entwicklung der elektroakustischen Musik, Komponist und Musiker. Seine Recherchen, gepaart mit eigenen Erinnerungen, haben zu einem Werk geführt, in dem die namhaften ExponentInnen – es sind auch einige wenige Frauen beteiligt – ihren Raum erhalten und ausgiebig zu Wort kommen. Siebzehn weitere AutorInnen bereichern das Buch mit ihren Beiträgen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den fünfziger Jahren, arbeiteten Wissenschaftler und Techniker mit avantgardistischen Komponisten zusammen, um die neuen Klangerzeugungsmöglichkeiten nutzbar zu machen. Die Komponisten kamen mit den unhandlichen elektronischen Anlagen alleine meistens nicht zurecht, deren Bedienung war zudem oft technisch ausgebildetem Personal vorbehalten.

Der deutsche Dirigent Hermann Scherchen (1891–1966), der 1944 die Leitung des Radioorchesters Beromünster übernahm, gründete 1954 im nahe bei Lugano gelegenen Gravesano ein Experimentalstudio. «Man kann ihm nicht nachsagen, dass er elektronische Musik besonders geliebt hätte», merkt Spoerri an. Scherchen alimentierte das Studio trotzdem weitgehend aus eigenen Mitteln und stellte eine Infrastruktur zur Verfügung, um so eine ideale Forschungsstätte zu schaffen.

Vom Speziellen zum Allgemeinen

Die Studios waren nach dem neusten Stand der Technik eingerichtet. Neben mehreren Tonbändern, Mikrofonen und einem Zwanzigkanalmischpult enthielten sie Filter, Echomaschinen und Tongeneratoren. Als Scherchen 1966 starb, war auch das Ende des Tonstudios besiegelt.

Produktionen mit elektronischer Musik waren damals oft nur in einem institutionellen Rahmen möglich. Radiostudios verfügten über Infrastruktur und Techniker, und auch die Verbreitung der Musik geschah weitgehend über die Radiostudios von Genf, Basel und Zürich. Die Sendungen waren – schon damals – «vor allem zu später Stunde, wo nicht allzu viele Hörer dadurch gestört wurden» angesetzt.

Tonjäger und Landesausstellung

In den sechziger Jahren, als die Geräte mobiler wurden, entstanden erste Tonjägervereine. 1962 wurde ein Wettbewerb um «Das Goldene Tonband von Zürich» ausgeschrieben. Die Aufgabe lautete: «Das Zeitzeichen des Schweizer Landessenders Beromünster von 12.30 Uhr ist durch Verändern der Bandgeschwindigkeit in eine höchstens drei Minuten dauernde Tonmontage umzuarbeiten.» Die analogen Aufnahmen des Zeitzeichens wurden vorwärts und rückwärts gespielt, geschnitten und in stundenlanger Arbeit zu neuer Musik montiert. Dabei wurden Methoden angewendet, die man heute als Sampling bezeichnen würde.

In der Schweiz entstand eine ganze Reihe von Kompositionen – als Auftragswerke für die Expo 64 in Lausanne und später für den Schweizer Pavillon der Weltausstellung von 1970 im japanischen Osaka. In den siebziger Jahren wurde die Verwendung elektronischer Mittel gebräuchlicher, auch im Film. 1975 erhielt die Musik-Akademie in Basel ein elektronisches Studio, das später von Thomas Kessler, einem Pionier der Live-Elektronik, geleitet wurde.

Synthesizer waren immer noch teuer und kamen vor allem in den Studios zum Einsatz. Erst in den achtziger Jahren, mit dem DX-7 von Yamaha, wurde digitale Klangerzeugung erschwinglich. Live-Elektronik war nun vermehrt im Konzertsaal zu hören, fand in komponierter und improvisierter Musik und auch bei Tanz- und Theateraufführungen Verwendung.

Die Entwicklung schreitet seit den neunziger Jahren rasend schnell voran. Die aufwendig ausgestatteten Studios werden seltener, portable Kleinstausrüstungen tun in Heimstudios ihren Dienst.

In den Anfängen der digitalen Aufzeichnung reichte der Speicherplatz nur für einige Minuten Musik. Inzwischen sind die Speicherkapazitäten von Kilobytes über Mega-, Giga- und Terabytes ins nahezu Unendliche gewachsen. Gleiches gilt für die Vielfalt an Programmen, die zur Verfügung stehen. Kompositionen und Experimente werden immer weniger durch technische Grenzen eingeschränkt – es bleiben die menschlichen.

CD-ROM als Inhaltsverzeichnis

«Das Buch ist in erster Linie ein Rettungsversuch für Informationen aus der Zeit vor der mengenmässigen Explosion. Es muss die zukünftige Arbeit sein, die heutige Szene zu überblicken und zu bewerten», schreibt Spoerri im Vorwort. Den Grundstein dazu hat er mit «Musik aus dem Nichts» gelegt.

An die Stelle eines ausführlichen Inhaltsverzeichnisses ist eine CD-ROM getreten, auf der alle Texte, die Bibliografie und Quellendokumente zu finden sind. Ein elektronischer Suchapparat ermöglicht es, Personen, Gruppen, Instrumente und Bereiche einfach zu lokalisieren. «Musik aus dem Nichts» ist eine umfassende Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz. Es ist ein hervorragendes (elektronisches) Nachschlagewerk. Was das Buch zusätzlich bereichert hätte, wäre eine Auswahl von Musikstücken auf CD, die aus einem Bereich stammen, der in den Sortimenten des schrumpfenden Fachhandels kaum mehr gepflegt wird.

Bruno Spoerri (Hrsg.): Musik aus dem Nichts – Die Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz. Chronos Verlag. Zürich 2010. 416 Seiten. 100 Abbildungen. 58 Franken