Mexiko 2010: Eine Feier mit kolossaler Mühe
Dieses Jahr feiert Mexiko den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit – und am 20. November 100 Jahre Revolution. Das wäre Anlass genug, um die mexikanische Geschichte kritisch zu hinterfragen. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Juan Villoro.
WOZ: Rund um die 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit hat sich die mexikanische Regierung darauf beschränkt, das Altbekannte zu wiederholen: der übliche Fokus auf historische Helden und Mythen. Haben Sie vorausgesehen, dass das so laufen würde?
Juan Villoro: Leider konnte man nichts anderes erwarten. Die Partei der Nationalen Aktion [PAN], die das Land regiert, ist im 20. Jahrhundert als eine Bewegung gegen die Ergebnisse der Mexikanischen Revolution entstanden. Die PAN ist eine konservative Partei, die grösste Mühe hat, den 100. Jahrestag der Revolution zu feiern. Es handelt sich um eine politische Kraft, die nur in sehr geringem Masse am indigenen Mexiko interessiert ist, am Kampf gegen die Diskriminierung und für die Multikulturalität.
Es sind nur sehr wenige Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu hören gewesen, von Intellektuellen, Künstlerinnen oder Journalisten, die andere Sichtweisen auf die mexikanische Geschichte zur Debatte gestellt hätten. So etwas wie eine «neue mexikanische Geschichtsschreibung», gibt es das überhaupt?
Doch, es gibt eine aktive kritische Geschichtsschreibung. Adolfo Gilly hat Felipe Ángeles, den wichtigsten General des Revolutionsführers Pancho Villa, einer umfassenden Neubewertung unterzogen. Paco Ignacio Taibo II hat eine grosse Biografie über Pancho Villa und eine über den Revolutionär Francisco Madero geschrieben, der von 1911 bis 1913 Mexikos Präsident war, und José Antonio Crespo verfasste ein Buch über die Lügen der offiziellen Geschichtsversion. Die Zeitschrift «Proceso» hat eine Serie herausgegeben, die historische und kulturelle Phänomene kritisch untersucht.
Aber warum hat all dies so wenig Einfluss darauf, was die Regierung und ihre Jahrestagskommission von sich geben?
Man kann den Intellektuellen nicht vorwerfen, sich rauszuhalten. Sie machen ihre Arbeit. Mit der offiziellen Propaganda, die eigentlich nur das Ziel hat, die Regierung zu feiern, können sie nicht mithalten. Der Regierung fehlt die Sensibilität für politische Anliegen, die sie selbst nie unterstützt hat, wie eben die Revolution oder die Unabhängigkeit. Statt die Geschichte zu hinterfragen, schlug der Präsident vor, einen Triumphbogen zu errichten – ohne zu erwähnen, auf welchen Sieg er sich dabei beziehen wollte. Obwohl sich die besten Architekten des Landes am Wettbewerb beteiligten, gewann der Entwurf für einen Turm. Das war surreal – als wenn man bei einem Wettbewerb für Zuchttiere eine Zwiebel prämieren würde. Der Gipfel war, dass dieses Bauwerk nicht einmal rechtzeitig fertig geworden ist. Alles mündete in einen Umzug, der Millionen kostete. Es wäre aussagekräftiger gewesen, hätte man mit diesem Geld Schulen und Krankenhäuser gebaut.
In Ihrem Roman «El testigo» (Der Zeuge), der 2004 veröffentlicht wurde – kurz nach dem Regierungswechsel – kehrt ein Mann nach Mexiko zurück. Er hat lange in Frankreich gelebt und sucht nun in der Heimat nach seinen Wurzeln. Neben anderen Themen taucht im Roman die Cristiada auf, ein ländlich-religiöser Aufstand in den zwanziger Jahren, der von der jungen Revolutionsregierung blutig niedergeschlagen wurde. Was hat Sie daran so interessiert?
Die Cristiada war ein vergessener Krieg: die letzte grosse Volksrebellion in Mexiko. Aber diese Geschichte wurde nicht bekannt, weil sich die damalige Regierung gegen die Bauern gestellt hatte, die sich gegen die Ungerechtigkeit wehren. Obwohl die Bauern im Namen des «Christkönigs» (Cristo Rey) kämpften, weigerte sich die Amtskirche, sie zu unterstützen. Es war eine Revolte armer Leute, denen als einziger Trost das Gebet blieb. Mich interessierte daran, dass etwas so Dramatisches in keiner der kanonischen Versionen unserer Geschichte auftauchte. Zugleich ahnte ich schon damals, dass die PAN-Regierungen eine übertriebene Neubewertung dieses Aufstands in Angriff nehmen wollten, bei der dann die Opfer in christliche Märtyrer verwandelt würden.
So geschah es auch: Innenminister Carlos Abascal beteiligte sich 2005 an einer Massenheiligsprechung von Märtyrern des Cristiada-Aufstandes im Bundesstaat Jalisco. Vor einigen Jahren verwendete eine Kandidatin für den Schönheitswettbewerb zur Miss Universe einen Rock mit Cristero-Symbolen. Wie in meinem Roman wurde die unterdrückte Religiosität «schick». Ich ahnte, dass diese verworrene Geschichte benutzt würde, um die Gegenwart zu verklären.
Im Roman gibt es den Satz «Nichts ist so unbequem wie die Zeugen, die es nicht hätte geben sollen» ...
Laut Reporter ohne Grenzen ist Mexiko mit dem Irak das gefährlichste Land für den Journalismus. Den Satz habe ich geschrieben, als die Situation noch nicht so schrecklich war. Er nimmt vorweg, dass die Aufgabe, Wahrheiten ans Licht zu bringen, unter immer schlechteren Bedingungen ausgeübt werden muss.
Juan Villoro
Der Schriftsteller, Übersetzer und Journalist Juan Villoro wurde 1956 in Mexiko-Stadt geboren. Zurzeit lebt er in Barcelona. Auf Deutsch erschien «Die Augen von San Lorenzo» (1996, vergriffen). Sein bedeutender Roman «El testigo» (2004) wurde noch nicht ins Deutsche übersetzt.
Feuerwerk statt Erinnerung : Geschichtspolitische Lethargie
Mexiko feiert den 200. Jahrestag des Unabhängigkeitskriegs und 100 Jahre Revolution. Anlass genug für Nachdenklichkeit und einen gewissen Stolz – aber es will sich keine Feierlaune einstellen. Der Krieg gegen das organisierte Verbrechen, den die regierende Partei der Nationalen Aktion PAN seit 2006 führt und der bereits über 28 000 Opfer gefordert hat, versetzt die Menschen in Angst und Apathie. Unwetterkatastrophen wie ein Hurrikan und Überschwemmungen verschieben die Prioritäten. Die vermeintliche Grippewelle 2009 und die sozialen Auswirkungen der Finanzkrise haben das Vertrauen in die Regierung zusätzlich schwinden lassen. Und nun ist es ausgerechnet diese Regierung, die den Feierlichkeiten ihren Stempel aufdrückt.
Dabei hätte die klerikal-konservative PAN, die 2000 die aus der Revolution hervorgegangene Staatspartei PRI ablöste, für frischen Wind im Umgang mit der mexikanischen Geschichte sorgen können. Bis dahin hatte die PRI ein nationalistisches Geschichtsbild propagiert, das vor allem die eigene Herrschaft rechtfertigen sollte: Bezugspunkte linker Erinnerung wie die StudentInnenbewegung von 1968 oder konservative wie der bäuerlich-religiöse Bürgerkrieg von 1926 bis 1929, die Cristiada, kamen nicht vor. Die Versuche, ab 2000 daran etwas zu ändern, gingen in den neuen politischen Grabenkämpfen unter. Am 15. September zeigte sich die geschichtspolitische Lethargie exemplarisch: Für die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitsjubiläum auf dem hauptstädtischen Zócalo hatte sich die Regierungskommission einen «Koloss» ausgedacht. Die Zwanzig-Meter-Statue zeigt einen Mann in schlichter Kleidung und mit Schnauzbart – so sollte der «einfache Mexikaner» gewürdigt werden. Die Kritik kam prompt: Mit Revolutionsführer Zapata wurde die Figur verglichen, mit Stalin, gar mit einem Schlächter der Konterrevolution von 1913.
Grossprojekte wie ein Turm mitten in der Hauptstadt oder eine Expo Bicentenario im Bundesstaat Guanajuato verschlingen Unsummen und sind erschreckend ideenlos. Der Expo-Pavillon «Identität» zeigt traditionelle indigene Lebenswelten und Kunsthandwerk – das urbane, von Einwanderung geprägte Mexiko gehört nicht zur «Identität». Den Pavillon «Erinnerung» kann man nur in einer Gruppe betreten. In sechzehn Räumen zeichnen Multimedia-Vorführungen Stationen der mexikanischen Geschichte nach, die exakt dem Kanon der offiziellen Geschichtsversion entsprechen: Die vorspanischen Kulturen waren edel, die Eroberung durch die Spanier grausam, die Kolonialzeit unterdrückerisch, die Unabhängigkeitskämpfe heroisch, die Revolution clever, der moderne Staat erfolgreich. An einem Ort zu verweilen, ist auf diesem Parcours genauso unmöglich, wie sich zu dem Gebotenen Gedanken zu machen. Stattdessen ist man im letzten Raum einem schwelgerischen Konzert mit Feuerwerk ausgesetzt. Die mexikanische Geschichte, so lernen wir, mündet in einer rosigen Gegenwart – und wird wie eh und je einem erzwungenen «Wir» übergestülpt.