Werner Vontobel: War Ihnen beim Schreiben des Buchs nie unwohl?

Nr. 18 –

Der «SonntagsBlick»-Redaktor Werner Vontobel zeigt Verständnis für fremdenfeindliche Äusserungen, nennt linke KritikerInnen seines neuen Buchs «politisch hyperkorrekt» und will durch die Streichung von Subventionen für Transportmittel die sozialen Beziehungen im Land stärken.


Die Wirtschaftsjournalisten Werner Vontobel und Philipp Löpfe zeichnen in ihrem Buch «Aufruhr im Paradies. Die neue Zuwanderung spaltet die Schweiz» ein dramatisches Bild von den Folgen der Personenfreizügigkeit (siehe WOZ Nr. 17/11). Die WOZ traf Werner Vontobel im Zürcher Medienhaus Ringier zum Gespräch.

WOZ: Werner Vontobel, ist die Schweiz ein Paradies?

Werner Vontobel: Die anderen sehen uns als Paradies. Die Anziehungskraft der Schweiz auf umliegende Länder ist gross. Denn anders als in den USA oder Deutschland sind bei uns die mittleren und unteren Einkommen kaum eingebrochen, die Löhne sind vergleichsweise respektabel. Aber wir laufen Gefahr, in dieselben Fallen zu tappen.

Und wo stellen Sie in der Schweiz Aufruhr fest?

Aufruhr ist übertrieben. Aber der Unmut in der Bevölkerung wächst über die ausländische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundenen Folgen wie etwa steigende Mieten und Bodenpreise.

Wo stehen Sie politisch?

Ich bin parteipolitisch unabhängig. Die SP und die Gewerkschaften stehen mir aber näher als SVP oder FDP.

Haben Sie 1992 dem Beitritt zum EWR zugestimmt?

Ja.

Würden Sie es wieder tun?

Heute würde ich Nein stimmen.

Was war der Auslöser für Ihr Buch?

Die Zubetonierung der Landschaft, aber auch die Auswirkungen der Zuwanderung von billigeren Arbeitskräften aus Deutschland. Unsere eigene Branche etwa setzt vermehrt auf billige Arbeitskräfte. Auch die rituelle Betonung, wie viel die Zuwanderung zum Wachstum beitrage, war ein Grund. Wenn ein kritischer Journalist das bis zum Abwinken hört ohne einen kritischen Unterton, dann nervt ihn das.

Vor vierzig Jahren tobte sich die Fremdenfeindlichkeit an den Italienern aus, heute an den Deutschen. War Ihnen beim Schreiben des Buches nie unwohl?

Nein. Ich trenne zwischen der neoliberalen Politik Deutschlands und den Opfern dieser Politik, die hier zuwandern. Es gibt Reibungen. Deutsche sind hierarchiegläubiger und härter im Ton. In der Schweiz gehen wir konzilianter miteinander um, das sollten wir bewahren.

Es gibt Stimmen, die werfen Ihrem Buch latenten Rassismus vor.

Gugus, eine Überempfindlichkeit von politisch hyperkorrekten Leuten. Wir setzen uns mit den Folgen der Wettbewerbspolitik und der Einwanderung auseinander. Unsere Bilanz ist eindeutig negativ.

War die Zustimmung zur Personenfreizügigkeit ein Fehler?

Aus der damaligen Perspektive wohl nicht. Damals gingen die Wirtschaft, ein Grossteil der Politik und der Experten davon aus, dass etwa gleich viele Menschen zu- wie abwandern. Tatsächlich verlief die Migration praktisch nur in eine Richtung. Rückgängig machen lässt sich die Personenfreizügigkeit nicht mehr. Es wäre zu riskant. Aber wir haben Handlungsspielraum: Wir können die flankierenden Massnahmen verstärken, wir können den radikalen Steuer- und Standortwettbewerb herunterfahren. Diese Wettbewerbsmanie spaltet die Schweiz, sie dividiert Reiche, Mittelstand und Arme auseinander.

Sie sagen, die grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer zähle zu den Verlierern dieser Entwicklung. Weshalb folgt dann eine Mehrheit Neoliberalen wie Christoph Blocher oder einem Konrad Hummler, die einerseits den Sonderfall Schweiz betonen, anderseits aber eine Entrechtungspolitik gegen den Souverän betreiben?

Ein Grund ist die fremdenfeindliche Karte, die SVP und Teile der Mitteparteien spielen und damit einen Nerv treffen. Wer in einem Wohnblock lebt, in dem bloss noch die Hälfte der Menschen seine Sprache spricht, dem wird unwohl. Auch der Konkurrenzdruck am Arbeitsplatz spielt mit. Mitschuld tragen die von politischer Korrektheit geleitete Linke und die CVP. Sie haben es verpasst, seriös auf diese Themen einzugehen. Wenn sich die Bürger nicht ernst genommen fühlen, bocken sie. Diese Mischung spielt Politikern in die Hand, die mit Ängsten politisieren.

Sind die Leute zu blöd, um das zu durchschauen?

Meine Erfahrung sagt mir, dass viele Bürger gerade die Wirtschaftspolitik besser verstehen als manche Wirtschaftspolitiker, die immer dieselben Sprüche klopfen.

Was passiert, wenn die Schweiz diesen Weg weiterverfolgt?

Dann erodiert auch bei uns der Mittelstand. Gefährlich ist vor allem die riesige Umverteilung via Bodenbesitz. Mittlerweile können sich selbst Mittelstandsfamilien in Tiefsteuergemeinden kaum mehr Wohneigentum und Mieten leisten.

In der Frage des Steuer- und Standortwettbewerbs und der Zersiedelung vertreten Sie linke und grüne Positionen. Anderseits beschwören Sie den Sonderfall Schweiz und nennen das «Modell Schweiz».

Weshalb soll man nicht auf Bewährtes zurückgreifen? Das Modellhafte an der Schweiz sind die direkte Demokratie, die einseitige Entwicklungen verhindern hilft, der funktionierende Dialog zwischen den Sozialpartnern und ein Grundgefühl, dass Ausgleich nötig ist. Nicht modellhaft sind die neoliberalen Dogmen, die das Modell Schweiz zerfressen: falsche Wettbewerbsanreize, Ausschaltung der Regulatoren, Sonderrechte für Reiche, explodierende Saläre und Vermögen der Wirtschaftseliten.

Sie grenzen sich im Buch explizit von Christoph Blocher ab. Obwohl sie in der Migrationspolitik ähnliche oder identische Positionen vertreten, nämlich: Grenzen dicht für sogenannte Drittausländer und Erschwerung des Familiennachzugs.

Nein, wir vertreten nicht Blochers Positionen. Richtig ist allerdings, dass eine unkontrollierte Zuwanderung erhebliche Nachteile für unser Land hat. Das hat Blocher früh erkannt. Seine Lösungen sind aber unbrauchbar. Wir müssen darüber erst eine intelligente Diskussion führen.

Sie schreiben, die Schweiz könne sich einem fremdenfeindlichen Trend nicht entziehen. Was meinen Sie damit?

Wir haben mit der SVP eine fremdenfeindliche Partei, die inzwischen ein Drittel der Wählenden hinter sich schart. Und wir haben fremdenfeindliche Äusserungen aus der Bevölkerung, die zum Teil nachvollziehbar sind. Wenn etwa der Eindruck entsteht, hier wird fast nur noch Englisch oder Hochdeutsch gesprochen, befremdet das auch mich. Die gemeinsame Sprache und Geschichte sind ein Kitt, den man nicht ungestraft zerbröseln lässt. Im Übrigen bleiben auch die Zugewanderten mehrheitlich unter sich. Wir plädieren anders als die SVP für mehr Integration. Dafür müssen Staat und Unternehmen Geld locker machen. Wir plädieren für mehr Entwicklungshilfe, um dort Jobs zu schaffen, wo die Leute aus wirtschaftlicher Not abwandern.

Die Wirtschaft ist auf Zuwanderung angewiesen.

Die Wirtschaft ist eine Rosinenpickerin. Statt selber Leute auszubilden, lockt sie Qualifizierte aus anderen Ländern in die Schweiz. Staat und Politik knicken zu schnell ein vor den Forderungen der Grossunternehmen.

Wenn UBS-Chef Oswald Grübel oder Novartis-Boss Daniel Vasella mit Wegzug drohen, hat die Schweiz zähneknirschend nachzugeben?

Grübels Drohung wirkt nicht sehr überzeugend. Wenn CS-Chef Brady Dougan sagt, seine Grossbank könne auch mit schärferen Eigenkapitalvorschriften leben, kann Grübels UBS das wohl auch. Bei Herrn Vasella liegt der Fall anders. Er kokettiert ständig mit Standortverlagerung. Er hat praktisch im Alleingang die Parallelimporte von Generika verhindert. Er untergräbt die staatliche Autorität, wenn er mit uns so umspringt.

Wie sollte die Schweiz mit ihm umspringen?

Man müsste es öfter mal darauf ankommen lassen. Aber das ist ein heikles Pokerspiel. Besonders der Basler Regierungsrat käme in Erklärungsnot, wenn die Stadt Arbeitsplätze und einen sehr guten Steuerzahler verlieren würde.

Ist eine Schweiz mit zehn Millionen Menschen nicht bloss Ihr Schreckensszenario? Sie unterschlagen die positiven Effekte der Zuwanderung.

Nein, wenn es so weitergeht, ist dieses Szenario realistisch. Wir schlagen unter anderem vor, die Transportkosten nicht mehr zu subventionieren, sondern sie voll auf die Benutzer von Flugzeug, Bahn und Strasse abzuwälzen. Das würde die Mobilität eindämmen.

Schrumpft dann die Wirtschaft?

Nein, sie müsste sich bloss lokaler ausrichten. Dann würden weniger Pendler im Stau feststecken, weniger Waren würden herumgekarrt, wir hätten wieder mehr Zeit für die Pflege sozialer Beziehungen, die Wirtschaft liesse sich leichter steuern, die Politik gewänne ihr Primat zurück.

Schadet das nicht Export und Wohlstand?

Die Exporte würden wohl etwas zurückgehen. Aber insgesamt würde der Wohlstand steigen. Denn bei der Mobilität liessen sich enorm Kosten einsparen, der Energieverbrauch ginge zurück, die soziale Unsicherheit würde abnehmen. Wir leben auf einem Niveau, auf dem etwas weniger oder mehr Wohlstand das Wohlbefinden nicht beeinträchtigt.

Die WOZ hat in ihrer letzten Ausgabe getitelt: «Nehmt den Reichen das Geld weg!»

Die Wirtschaft leidet in der Tat weltweit darunter, dass die Unternehmen und ihre Topkader einen immer grösseren Teil der Wertschöpfung für sich beanspruchen und mit ihren Finanzierungsüberschüssen dem Wirtschaftskreislauf Geld entziehen. Die Staaten müssen dann dieses Nachfrageloch mit immer neuen Schulden stopfen und gleichzeitig ihre Leistungen herunterfahren ... Das macht sie noch abhängiger von den Banken. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. In diesem Sinne hat die WOZ wohl recht.


Werner Vontobel

Der studierte Volkswirtschafter Werner Vontobel (65) arbeitete, bevor er zum «Sonntagsblick» kam, als Wirtschaftsjournalist unter anderem für den «Tages-Anzeiger», die «SonntagsZeitung» und die «Weltwoche». Vontobel ist Autor mehrerer Bücher.