Schweizer Forschungspolitik: Mitmachen um jeden Preis?
Die Flagship-Initiative der EU stellt die forschungspolitischen Weichen der Schweiz neu. Im Wettstreit um eine Milliarde Euro Forschungsgelder drohen wissenschaftliche Kriterien in den Hintergrund zu treten.
Vor drei Wochen hat die Europäische Kommission in Budapest sechs Flaggschiffe vom Stapel gelassen – gigantische Forschungsunternehmen, die ihre Energie im Rahmen der 2009 lancierten Flagship-Initiative auf das eine Ziel hin bündeln sollen: Europa innerhalb von zehn Jahren an die Weltspitze der Informations- und Kommunikationstechnologie zu katapultieren. Mindestens eines dieser sechs Flaggschiffe wird im Mai 2012 die beispiellose Summe von einer Milliarde Euro an Bord hieven können. Die Schweiz wird praktisch sicher dazugehören, ist sie doch an fünf der sechs multinationalen Projekten beteiligt, bei zweien davon hat sie gar die Koordination übernommen.
Doch die Medaille hat eine Kehrseite: Seit die Schweiz an den Forschungsrahmenprogrammen der EU teilnimmt, hat sie sich in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt. Zum einen gestaltet sich Forschung in solch multinationalen Konsortien zunehmend interdisziplinär und komplex. Oft benötigt sie eine riesige Infrastruktur als Basis, und die wiederum verschlingt enorme Geldsummen und bindet Ressourcen über viele Jahre hinweg. Zum andern verfolgen die Forschungsinitiativen der EU klar politisch-ökonomische Ziele. Chancen auf Projektgelder hat nur, wer sein Forschungsvorhaben entsprechend ausrichtet, gut «verkauft» und dafür auch lobbyiert. Mit der Flagship-Initiative spitzt sich das Konfliktpotenzial dieser Art von Forschungsförderung zu.
«Es ist eine grossartige Auszeichnung für den Forschungsplatz Schweiz, dass wir im Schlussspurt um diese äusserst zukunftsträchtigen Forschungsprojekte so prominent vertreten sind», sagt Bruno Moor, Bereichsleiter Multilaterale Forschungszusammenarbeit beim Staatssekretariat für Bildung und Forschung (SBF).
Doch seit in Budapest bekannt wurde, dass die EU nur zwischen fünfzehn und dreissig Prozent der Finanzierung tragen will, schiessen Spekulationen darüber ins Kraut, wie die Schweiz im Erfolgsfall über die nächsten zehn Jahre bis zu 850 Millionen Euro auftreiben will. Wobei klar ist, dass sich die Forschungspartner im Konsortium ebenfalls finanziell beteiligen werden. «Noch ist offen, wie hoch der Beitrag der Netzwerkpartner und damit auch der Schweiz sein wird», sagt Bruno Moor. «Das hängt vom Entscheid über den finanziellen Beitrag der Europäischen Kommission ab – und auf den warten wir alle gespannt.»
Hauptsache «Big Science»
Konfliktlinie Nummer eins: der Imperativ des globalen Wettbewerbs. Er zwingt die Wissenschaft in den Dienst von Industrie und Wirtschaft und drängt die Forschung immer stärker zu Leistungen der Superlative. Damit, so der wiederholt geäusserte Vorwurf, lassen sich Forschende zu unrealistischen Versprechungen hinreissen. Schlimmer noch: Diese Art der Forschungsförderung verleite sie dazu, ihre Karriere entlang von Finanzierungskanälen zu planen, gab Dieter Imboden, der Forschungsratpräsident des Schweizerischen Nationalfonds, an einer Podiumsdiskussion am 13. Mai in Zürich zu bedenken.
Im Brennpunkt der Kritik steht vor allem das «Human Brain Project», ein Flaggschiff der ETH Lausanne. Laut Projektkoordinator Henry Markram soll ein – noch zu entwickelnder – Supercomputer bis in zehn Jahren das menschliche Gehirn nachbilden und Hirnfunktionen simulieren können. Das Gehirnmodell werde eigene Intelligenz besitzen und Sprachen lernen, prognostizierte Markram gegenüber der Online-Wissenschaftszeitschrift «Lab Times». Dank ihm werde man neurologische Erkrankungen präzis diagnostizieren und massgeschneidert behandeln können, steht auch im Projektantrag. «Dieser Anspruch bringt unsere Zunft in Misskredit», erboste sich der deutsche Mediziner Ernst Pöppel vergangene Woche in einer «Kontext»-Sendung von Radio DRS. «Das ist Scharlatanerie!»
Konfliktlinie Nummer zwei: Die Schweizer Forschungspolitik richtet sich nach den Strategien der EU aus und investiert zunehmend gebündelt in gigantische Forschungsinfrastrukturen – namentlich in den Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien und die damit verbundenen Hochleistungsrechner. Zentrale Weichen hat der Bund bereits gestellt: Mit der 2009 gestarteten Hochleistungsrechner-Initiative soll das Supercomputing Centre der ETH in Manno bei Lugano ab 2012 nochmals substanziell erweitert werden. Und vergangenen Freitag hat Gregor Haefliger, Bereichsleiter Nationale Forschung beim SBF, die «Schweizer Roadmap für Forschungsinfrastrukturen» für die Periode 2013 bis 2016 vor der versammelten Akademie der Naturwissenschaften präsentiert. «Big Science» verlange harte finanzielle und bildungspolitische Entscheide, machte er gleich zu Beginn klar.
Noch ist nichts entschieden, aber die Prioritäten sind gesetzt: Dem Bereich der Simulationen und Modellierungen, der hohe Rechenkapazitäten voraussetzt, wird grosse Bedeutung beigemessen. Entsprechend prominent figurieren nicht nur Hochleistungsrechner, sondern – explizit – auch der neurobiologische Supercomputer «Blue Brain» auf der Liste. Blue Brain ist das Vorgängerprojekt und die Basis, auf dem das Human Brain Project aufbauen will. Passenderweise ergänzte der Bundesrat bereits im Dezember 2010 seinen Leistungsauftrag an den ETH-Bereich für die Legislaturperiode 2008 bis 2011 mit einer Aufforderung an die ETH Lausanne, sich mit dem «Human Brain Project» bei der EU «mit Nachdruck als Kandidatin zu bewerben».
Wissenschaftlichkeit angezweifelt
Und damit zu Konfliktlinie Nummer drei: Marketing und Lobbying sind mit der Flagship-Initiative definitiv zu Schlüsselkompetenzen für Forschende avanciert – und das berührt die Wissenschaft in ihrem Kern. Seit April unterstützt die EU mit einer eigens kreierten Flotte – genannt Fleet – ihre sechs Pilot-Flaggschiffe mit je gut 1,5 Millionen Euro tatkräftig darin, sich innerhalb eines Jahres die notwendigen Forschungsgelder für ihre Projekte zu beschaffen. Einer, der hinter den Kulissen für das Human Brain Project weibelt, ist Gérard Escher, persönlicher Berater von ETH-Lausanne-Präsident Patrick Aebischer, ehemals Berater des Staatssekretärs für Bildung und Forschung und bis 2008 im SBF tätig. Wie zufällig ist er vergangenen Freitag aufgetaucht, als Haefliger die «Roadmap» vorgestellt hat. Die Kritik am Human Brain Project ist für ihn bloss philosophisches Geplänkel. «In Paris, London und anderswo stehen die Forscher Schlange, um an unserem Projekt mitzumachen», sagt er. Mit dem Vorgängerprojekt Blue Brain hätten sie die Basis geschaffen, auch punkto Infrastruktur.
Auch der Bundesrat «anerkennt die strategische Bedeutung des Projekts Blue Brain», heisst es in der Botschaft über die Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI) im Jahr 2012. Pikantes Detail: Er hat den ETH-Rat gleichzeitig beauftragt, das Projekt extern auf seine Wissenschaftlichkeit hin evaluieren zu lassen. Offensichtlich hat die wiederholt geäusserte Kritik aus Forscherkreisen, Markram habe die behaupteten erfolgreichen Simulationen bislang nicht publiziert und so wissenschaftlich überprüfbar gemacht, Zweifel geschürt. Mittlerweile sind die Resultate der externen Fachgutachten da. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe war aber weder vom ETH-Rat noch vom Staatssekretariat in Erfahrung zu bringen, wer die Evaluation durchgeführt hat und zu welchen Ergebnissen sie geführt hat.
Wer entscheidet?
Und so beginnt sich eine vierte Konfliktlinie abzuzeichnen: Wer entscheidet letztendlich über «Big Science»? Die Flagship-Initiative setzt Bund und Parlament unter Druck: Wenn die Europäische Kommission im Mai 2012 beschliesst, welches der sechs Flaggschiffe den Zuschlag und damit die Milliarde Euro bekommt, muss auch auf Bundesebene geklärt sein, wie dessen Finanzierung langfristig aussieht. «Die Grundsatzfrage», sagt Haefliger, «ist doch die: Kann es sich die Schweiz überhaupt leisten, sich nicht an der Flagship-Initiative zu beteiligen und bei der weiteren Ausgestaltung des Europäischen Forschungsraumes bei solchen Verbund-Initiativen der Forschung abseitszustehen?» Eine rhetorische Frage, die man auch anders formulieren könnte: Bleibt dem Parlament etwas anderes übrig, als den Finanzierungsplan des Bundes abzunicken – wie immer er auch aussieht?
In der bevorstehenden Sommersession, am 7. Juni, wird der Nationalrat die BFI-Botschaft 2012 diskutieren. Ob dabei auch die externe Evaluation der Basis des Human Brain Project zur Sprache kommt? Gérard Escher jedenfalls bleibt gelassen. «Wir sollten weitermachen – ob mit oder ohne Flagship-Unterstützung.»