Big Science : «The Matrix» lässt grüssen

Nr.  4 –

Es sind Forschungsvorhaben, die sich wie das Drehbuch für einen Science-Fiction-Film lesen: Jeder Mensch soll mit einem Sensorchip ausgerüstet werden, der seine Gesundheit überwacht und optimiert; Supercomputer sollen das menschliche Gehirn simulieren – oder gar die ganze Welt – und so Krankheiten wie Alzheimer heilbar machen, Krisen vorhersehen und Kriege verhindern. Nicht in fünfzig Jahren, sondern innerhalb der nächsten zehn.

Die Fäden dieser Forschungsvorhaben laufen alle an der ETH zusammen. Am 28. Januar entscheidet sich, ob eines oder gar zwei von ihnen mit einer Milliarde Euro Forschungsgelder realisiert werden können. Die Chancen stehen nicht schlecht, sind doch nur mehr sechs Projekte im Rennen, das die EU vor fast zwei Jahren mit der sogenannten Flagship-Initiative eröffnet hat. Im Erfolgsfall müssten indes wohl die Weichen der Forschungsförderung in der Schweiz neu gestellt werden – denn verantwortlich für die Beschaffung dieser Milliarde sind die jeweiligen ETH-Projektleiter. Die EU wird nur einen Bruchteil beisteuern. Damit würde die Projektfinanzierung öffentliche Forschungsgelder in einem Ausmass binden, dessen Folgen für die Schweizer Forschungslandschaft noch gar nicht absehbar sind.

Überhaupt wirft die Flagship-Initiative der Europäischen Kommission ein paar Fragen auf. Das fängt mit ihrer Zielsetzung an. Sie verlangt, dass alle WissenschaftlerInnen ihre Forschung auf das Ziel ausrichten, Europa binnen zehn Jahren an die Weltspitze der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) zu katapultieren – mit «Wellen technologischer Innovationen», die sich «ökonomisch ausbeuten» lassen. Politisch angestossene Forschung in Ehren. Aber wie weit soll sich die Wissenschaft vor den Karren der Politik spannen lassen, um neue Industriezweige und Arbeitsplätze zu schaffen und Gewinne zu maximieren?

Immerhin: «Visionär» sollen die Forschungsprojekte sein. Allein, die Visionen, die die Europäische Kommission mit ihrer Auswahl der sechs Finalisten befördern will, entpuppen sich in ihrer Grandiosität als zumindest fragwürdig. Die Projekte eint eine Wahrnehmung der Welt in Bits und Bytes. In dieser Welt verschmilzt das digitale ICT-System mit der realen Umwelt und dem menschlichen Körper zu einem einzigen, gigantischen Meer an Daten. Und darin, so glauben die Projektleiter, liegen die Antworten auf alle Fragen verborgen – man muss die Daten nur sammeln, analysieren und in Modellierungen zusammenführen, um diese Antworten mittels Simulationen zu finden.

Man könnte solche ICT-basierten Heilsversprechen auch abgrundtief düster nennen. Sie erinnern an Welten aus Science-Fiction-Filmen wie «The Matrix» – und weniger an seriöse Forschungsunterfangen. Oder glauben die Projektverantwortlichen tatsächlich, dass sich die Menschen – als Individuen oder als Gesellschaft – im Namen von Gesundheit und Sicherheit total überwachen lassen? Dass sie auf den Schutz ihrer Daten verzichten und sie der Allgemeinheit zur freien Verfügung überlassen werden?

Es könnte also sein, dass die visionären Flagship-Forschungsvorhaben scheitern, bevor sich die Frage ihrer Machbarkeit überhaupt stellt: weil der freie Datenzugang fehlt. Ein Projekt, an dem die Schweiz auch beteiligt ist, will dem Menschen eine virtuelle Kopie seines Körpers zur Seite stellen, um daran Medikamente und Therapien zu erproben. Das Ganze basiert auf einem elektronischen Patientendossier, das eine komplette Analyse des individuellen Genoms sowie eine Vielzahl weiterer persönlicher Daten umfasst.

Der Projektleiter aus Deutschland ist überzeugt, dass PatientInnen schon bald dazu verpflichtet werden, ein solches Dossier zu führen, um ihre Behandlungskosten überhaupt noch vergütet zu bekommen. Aus dem Bundesamt für Gesundheit heisst es klipp und klar: Das ist in der Schweiz undenkbar – das elektronische Patientendossier wird für PatientInnen immer freiwillig bleiben.

Bleibt die Frage: Wollen wir solche Forschungsvorhaben überhaupt? Es wird Zeit, diese Debatte breit und öffentlich zu führen.