Seilziehen am Weissenstein: Solothurner Sesselitanz
Gegen den Widerstand des Vereins Pro Sesseli versucht der Solothurner Machtklüngel, den Abbruch einer historischen Sesselbahn und den Neubau einer Gondelbahn auf den Weissenstein durchzusetzen. Eine unendliche Geschichte.
Die Fernsicht vom Solothurner Hausberg Weissenstein (1280 Meter über Meer) lässt an klaren Tagen die Herzen von Erholungsuchenden höher schlagen – sie reicht über das Mittelland bis zu den Alpen, vom Montblanc bis zum Säntis. Die Idylle in der Juraschutzzone stört seit Jahren ein verzwickter und heftiger Streit um die historische Sesselbahn Weissenstein. Einzelne Beamte des Bundesamtes für Verkehr (BAV) halten sie nicht mehr für sicher. Auf der einen Seite scharen sich hinter der Seilbahn Weissenstein AG (SWAG) Regierungsrat, Solothurner BundesparlamentarierInnen, das Monopolmedium «Solothurner Zeitung», welches in dieser Sache Medienpartner des Seilbahnunternehmens ist, sowie Prominenz aus Kultur, Sport und Wirtschaft. Sie möchten die sechzig Jahre alte Sesselbahn – immerhin ein schützenswertes Denkmal von nationaler Bedeutung – abreissen lassen und durch eine zwölf bis fünfzehn Millionen Franken teure Gondelbahn ersetzen.
Sie wissen das Bundesamt für Verkehr hinter sich, das sich für einen Neubau aussprach. Dies, obwohl 2007 der damalige Amtsdirektor Max Friedli in einem Brief gegenüber einem Unterstützer der historischen Bahn einräumte, dass einer Weiterführung der alten Bahn nichts im Wege stehe: «Wir können Ihnen versichern, dass das Bundesamt für Verkehr offen ist für allfällige Gesuche von Betreibern, welche eine solche Seilbahn weiterhin betreiben möchten. Insbesondere verlangt das BAV nicht, dass bei einer solchen Seilbahn die heutigen Normen vollständig umgesetzt werden müssten. Die Betriebsbewilligungen von bestehenden Anlagen können erneuert werden, sofern die Seilbahn so instand gehalten wird, dass die Sicherheit jederzeit gewährleistet ist. Eine historische Seilbahn kann und muss also nicht für die Erneuerung der Betriebsbewilligung plötzlich sämtlichen neuen Vorschriften oder Normen entsprechen.»
Auf der anderen Seite kämpft der Verein Pro Sesseli mit seinen über tausend Mitgliedern zusammen mit dem Schweizerischen Heimatschutz (SHS) sowie der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SLS) für den Erhalt und die Sanierung der einzigartigen Anlage (siehe unten: «Der Letzte seiner Art»). Auch das kantonale Amt für Denkmalpflege und Archäologie sprach sich für die Sanierung der alten Bahn aus. Unterstützung findet das Anliegen von Pro Sesseli ausserdem beim Bundesamt für Kultur und beim Bundesamt für Umwelt.
Milliardär hilft Pro Sesseli
Der Verein möchte den derzeitigen Besitzern die Anlage abkaufen (durch eine bereits gegründete Stiftung) und von einem regionalen Verkehrsunternehmen betreiben lassen. Die SWAG lehnt einen Verkauf grundsätzlich ab und verweigert einem neutralen Seilbahnexperten, der den Sanierungsaufwand abschätzen will, den Zutritt zur Bahn. Die Sanierung würde wesentlich weniger kosten als ein Neubau, nämlich rund sechs Millionen Franken. Und die Finanzierung wäre bereits gesichert: Der Milliardär, Unternehmer und Mäzen Hansjörg Wyss hat einen À-fonds-perdu-Beitrag zugesichert, und der Schweizerische Heimatschutz widmete im vergangenen Jahr seine Schoggitaleraktion dem Projekt. In der Region Solothurn untersagten die Behörden an zahlreichen Schulen den Verkauf der Schoggitaler. Auch der Verein Pro Sesseli sieht sich als Verhinderer angefeindet, obwohl er nicht einspracheberechtigt ist und somit sein Sanierungsprojekt nur durch Überzeugungsarbeit realisieren kann.
In der Bevölkerung wächst der Unmut darüber, dass die Bahn seit 2009 nicht mehr in Betrieb ist, weil die Bahnbetreiber Ende 2009 die Konzession auslaufen liessen. Die Stilllegung war alles andere als zwingend. Denn mit entsprechenden Instandstellungsarbeiten hätte die SWAG den Betrieb bis zu einer definitiven Lösung aufrechterhalten können. Hans Rudolf von Rohr, Präsident von Pro Sesseli, kritisiert: «Die Verantwortlichen der Seilbahn Weissenstein und ihre Unterstützer bis hinauf in die Kantonsregierung haben einzig und allein auf eine neue Gondelbahn gesetzt und daher auch auf ein Gesuch zum Weiterbetrieb der Sesselbahn verzichtet, obwohl dies nach einer Praxisänderung des Bundesamtes für Verkehr, gestützt auf einen Bundesgerichtsentscheid, möglich gewesen wäre. Die Bahnbetreiber tun alles, um den Zustand der alten Bahn zu schwächen. Wenn die Bahn nicht läuft, entstehen Standschäden, und eine Sanierung wird immer schwieriger.» Dabei wäre eine Sanierung möglich. Das bestätigt auch ein Gutachten des Seilbahnsachverständigen Hili Manz.
Der Verein Pro Sesseli und seine UnterstützerInnen wollen nicht nur eine Anlage von nationaler Bedeutung erhalten und einen Eingriff in eine Landschaft von nationaler Bedeutung verhindern. Sie zweifeln auch stark an der Wirtschaftlichkeit einer neuen Gondelbahn. Denn solange die alte Sesselbahn noch lief, lag die Auslastung mit einer Transportkapazität von 450 Personen pro Stunde durchschnittlich bei bloss acht bis zwölf Prozent. Der Jahresgewinn betrug 2008 27 Franken und 2009 113.40 Franken. Nur an wenigen Spitzentagen war die Seilbahn ausgelastet.
Die neue Bahn könnte pro Stunde doppelt so viele Menschen auf den Weissenstein hieven. Um die Gondelbahn wirtschaftlich zu betreiben, müsste der Tourismus auf den Weissenstein erheblich angekurbelt werden. Die Seilbahn AG setzte zunächst in ihrem Projekt Weissenstein plus, in dessen Patronatskomitee auch der Solothurner Regierungsrat Walter Straumann (CVP) und die FDP-Regierungsrätin Esther Gassler sitzen, auf eine künstliche Tubing- und eine Rodelbahn. Für den Bau der Gondelbahn und der Freizeitanlagen, die mehr Touristen auf den Berg locken sollten, wurde der Richtplan angepasst und vom Solothurner Regierungsrat genehmigt. Das Bundesamt für Raumentwicklung verlangte in der Folge vom Regierungsrat, dass der vorgesehene Bau der beiden Freizeitanlagen aus dem Richtplan zu entfernen sei. Einsprachen des Heimatschutzes und der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz im Plangenehmigungsverfahren für die neuen Anlagen wurden auf das Konzessionsverfahren verwiesen.
Gutachten gegen Gutachten
Heinz Rudolf von Rohr und sein Verein halten das für einen Verstoss gegen geltende Gesetze und rechtsstaatlich korrekte Verfahren. Denn der Bau der Gondelbahn verstosse gegen das Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz. Dass die Einsprachen von Heimat- und Landschaftsschutzverbänden vom Regierungsrat gar nicht erst behandelt und auf das Konzessionsverfahren verwiesen wurden, sei ebenfalls nicht haltbar, sagt von Rohr gegenüber der WOZ. Ein vom Bundesamt für Verkehr eingeholtes Gutachten des Bundesamtes für Justiz widerspricht dem und behauptet, mit der Richtplananpassung sei auch der Bau einer neuen Bahn geklärt beziehungsweise der Abbruch der alten beschlossen. Pro Sesseli holte ein Gegengutachten des renommierten Umweltrechtlers Arnold Marti ein. Der Oberrichter aus Schaffhausen und Professor an der Universität Zürich kommt zum Schluss, dass die Auffassung des Bundesamtes für Justiz unhaltbar sei.
Pikant: Federführend in der Richtplananpassung war Regierungsrat Straumann, der im Patronatskomitee für einen Neubau der Bahn sitzt. Angesprochen auf den Interessenkonflikt, sieht er darin kein Problem, wie er gegenüber der WOZ sagt. Und: «Das Komitee ist schon lange nicht mehr aktiv.» Ausgetreten ist er aber bis heute nicht.
Doch der Solothurner Filz konnte sich beim Bund nicht durchsetzen. Da half es auch nicht, dass Solothurner BundesparlamentarierInnen mit Vorstössen Druck ausübten. Der Bundesrat hat nach zähem Ringen unter den Bundesämtern den angepassten Richtplan ohne Freizeitanlagen, aber mit der Möglichkeit eines Gondelbahnbaus genehmigt. Eine Gondelbahn ohne Freizeitanlagen rechnet sich nach Ansicht der KritikerInnen erst recht nicht. Sie befürchten, dass bei einem Flop am Ende die öffentliche Hand zahlen müsste. In der AG dominiert der ehemalige Banker Rolf Studer. In kleinerem Umfang haben auch Gemeinden und Kleinaktionäre Aktien gezeichnet. Die Besitzverhältnisse sind aber nicht offengelegt. Diese Intransparenz kritisiert von Rohr. «Wenn schon die öffentliche Hand Aktien zeichnet, kann die Öffentlichkeit Transparenz erwarten.»
Einsprachen absehbar
Der Bundesrat hat den Richtplan nur mit Vorbehalten genehmigt, die neue Bahn darf die geschützte Landschaft nicht schwerwiegend beeinträchtigen, neue Freizeitanlagen bedürften einer neuerlichen Richtplananpassung. Denn der Weissenstein liegt nicht nur in der Juraschutzzone, sondern ist auch im Inventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BNL) aufgeführt. Der Bau der Gondelbahn liesse sich nicht ohne erhebliche Waldrodungen bewerkstelligen – und auch die neuen und viel grösseren Stationsgebäude beeinträchtigten nach Ansicht der Landschaftsschützer und von Pro Sesseli das Landschaftsbild schwerwiegend. Diese Beurteilung bestätigen die Gutachten der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission sowie der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. Ohnehin ist die Sache noch nicht entschieden: Sollte das Bundesamt für Verkehr die Konzession für eine neue Bahn demnächst erteilen, werden Heimatschutz und Stiftung Landschaftsschutz Schweiz die Angelegenheit prüfen und dann entscheiden, ob sie die Betriebsbewilligung vor dem Bundesverwaltungsgericht beziehungsweise dem Bundesgericht anfechten.
Das Kuppelprinzip: Der Letzte seiner Art
Der Sessellift Weissenstein ist der letzte seiner Art, ein technik- und tourismusgeschichtliches Denkmal von nationaler Bedeutung. Am Anfang des letzten Jahrhunderts entwickelten Ingenieure erste Schlepplifte und Aufzugsanlagen mit Gurten und Bügeln, die nur im Winter betrieben werden konnten. Um solche teuren Anlagen auch im Sommer nutzen und damit rentabler betreiben zu können, rüsteten die Bahnunternehmen ihre Anlagen für Sommergäste um.
Die ersten einfachen Systeme waren als simple Gehhilfen konzipiert, ihnen folgten ans Förderseil geklemmte Sitzvorrichtungen. Die frühesten Sesselmodelle waren einsitzig, und ihre aus verzinktem Stahlrohr konstruierten Sessel hatten Sitzflächen sowie Lehnen aus Holzlatten. Im Juli 1944 nahm der erste Sessellift Europas von Engelberg auf den Jochpass seinen Betrieb auf.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg revolutionierte die Firma Von Roll in Bern den Sesselbahnbau mit dem Typ VR101. Während bei den herkömmlichen Sesselbahnen die Fahrgäste gewissermassen auf die laufenden Sessel aufspringen mussten, liessen sich beim neuen System VR101 die Sessel auskuppeln, die Sessel standen also still, während die Fahrgäste die Bahn bestiegen.
Dank des neuen Kuppelprinzips liess sich die Seilumlaufgeschwindigkeit und damit die Förderkapazität erheblich erhöhen. Der Sessellift Weissenstein, der 1950 gebaut und 1951 in Betrieb genommen wurde, ist die letzte Bahn dieses Typs in Europa. Seit Ende 2009 steht die Bahn auf den Solothurner Hausberg still.