Industriekultur: Lieber Tell als Sulzer
Dem Dampfmaschinenmuseum Vaporama in Thun droht das Aus. Der Vorgang steht beispielhaft für das gespaltene Verhältnis der Schweiz zu ihrer industriellen Vergangenheit.
Die Herbstsonne taucht Schloss Schadau am Stadtrand von Thun an diesem Septembermorgen in ein mildes Licht, auf den Bäumen glitzert der Tau, der weitläufige Park liegt still da. Doch plötzlich heult eine Maschine auf, und laute Zurufe ertönen: «Weiter, noch ein bisschen – stopp.»
Auf der anderen Seite des Schlossparks erkennt man hinter dem Lattenzaun einen Kranwagen, der eine schwere Last in die Luft hebt. Hier, auf dem ehemaligen Gutshof des Schlosses mit dem Wohngebäude, der Scheune, der Orangerie und den Anbauten, befindet sich das Schweizerische Dampfmaschinenmuseum Vaporama, dessen freiwillige Helfer soeben eines ihrer Schmuckstücke versetzen lassen: eine perfekt restaurierte Kolbenmaschine, die in der engen Garage besser platziert werden soll, damit die BesucherInnen die Funktionsweise des Geräts leichter nachvollziehen können.
Wenn überhaupt noch BesucherInnen kommen, denn die Zukunft des Museums ist ungewiss. Die Bauprofile zwischen den Gebäuden verraten, dass dem Areal eine neue Nutzung bevorsteht. Der Kanton Bern als Eigentümer hat das Land verkauft, eine private Investorengruppe plant darauf eine gehobene Wohnüberbauung. Weil sich weder die Stadt Thun noch der Kanton für den Fortbestand des Museums einsetzen und auch finanziell keine Hilfe mehr leisten wollen, droht der Sammlung schlimmstenfalls der Abtransport auf den Schrottplatz.
Wunderbare Laufruhe
Den langjährigen Chefmechaniker musste die Stiftung, die das Museum leitet, kürzlich entlassen. Ab dem 1. November werden auch die Führungen fürs Publikum eingestellt. Als Begründung hält das Museum fest: «Der Stiftungsrat hat einstimmig beschlossen, die Auflösung der Stiftung per Ende Oktober 2009 zu beantragen wegen: Unerreichbarkeit des Stiftungszwecks (Betrieb eines Dampfmaschinen-Museums in Thun) und Insolvenz (die finanziellen Mittel der Stiftung inklusive Stiftungskapital sind aufgebraucht).»
Wie konnte es so weit kommen, wo doch das Vaporama laut einem Gutachten von 2004 eine «für die Schweiz einmalige Sammlung» aufweist, die «im Bereich mobiler Kulturgüter» von «nationaler Bedeutung (Kategorie A)» sei und ins eidgenössische Kulturgüterschutz-Inventar gehöre? Eine Sammlung auch, über die der abtretende oberste Denkmalpfleger des Kantons Bern, Jürg Schweizer, sagt, sie müsse unbedingt erhalten werden, denn das Dampfzeitalter sei für unser Land «von ganz wesentlicher Bedeutung» gewesen: «Die Schweiz wäre heute nicht da, wo sie ist, hätte sie nicht diese Maschinen entwickelt.»
Die Dampfkraft ermöglichte zum ersten Mal die industrielle Produktion im grossen Stil auch abseits der Flussläufe. Und die Schweizer Dampfmaschinen waren international begehrt und wurden weltweit exportiert. Rund hundert Objekte zählt das Inventar des Vaporamas, darunter befinden sich einige Prunkstücke: So lagert zuhinterst in der Orangerie in seine Einzelteile zerlegt das wohl letzte erhaltene Exemplar des Dampfwunders, das an der Weltausstellung 1889 in Paris die Schweiz repräsentierte: eine stehende Dreizylinder-Verbundmaschine aus dem Haus Sulzer, Winterthur. Eine weitere Perle ist die liegende Dreizylindermaschine, die Sulzer und Escher Wyss 1899 als Laborgerät für die ETH Zürich entwickelt hatten. An diesem Motor, der ins Vaporama gerettet werden konnte, weil die Hochschule daran kein Interesse mehr hatte, wurden bis 1983 Maschineningenieure ausgebildet.
Eine andere Rarität zeigt Peter Hitz, Mitarbeiter und Sprecher des Vaporamas, beim Rundgang durchs Gelände. Es ist die oszillierende Zweizylinder-Verbundmaschine, die um 1900 das Brienzersee-Dampfschiff «Giessbach» antrieb – und die von den freiwilligen Helfern, meist Pensionierten aus technischen Berufen, liebevoll wieder in Schuss gebracht wurde. Nun glänzt die über Hundertjährige wie am ersten Tag. Peter Hitz schaltet den Strom ein – wegen Feuergefahr darf man die Maschine nicht mit Dampf betreiben, sondern bringt sie elektrisch zum Laufen –, und das Kraftpaket macht seinem Namen alle Ehre: Die zwei Kolben kippen hin und her, um den Schub besser zu nutzen (daher die Bezeichnung «oszillierend»), und trotz ihrer schieren Wucht arbeitet die Maschine ruhig und sanft.
«Passagierschiffe auf den Weltmeeren haben heute noch zum grossen Teil Dampfturbinen – wegen der wunderbaren Laufruhe», erklärt Hitz. Den besten Beweis dafür liefert jenes Exponat, das 1982 den Anfang der Vaporama-Geschichte begründete: Damals entstand die gleichnamige Stiftung, deren erster Zweck es war, das Dampfschiff «Blümlisalp» zu retten, welches die Schifffahrtsgesellschaft verschrotten wollte. Zehn Jahre später stach die «Blümlisalp» zur zweiten Jungfernfahrt in den Thunersee, und seither sind Bevölkerung, Behörden und TouristikerInnen mächtig stolz auf das über hundertjährige Schiff.
Sulzer pfeift auf alten Dampf
«Wie fast auf allen Schweizer Seen musste auch in Thun das Dampfschiff von Dampferfreunden gerettet werden», sagt Peter Hitz im Infozentrum des Museums, wo neben Fotografien, Skizzen und Dokumenten ein Modell der «Blümlisalp» zu bestaunen ist. Auch in Zürich etwa wollte die Schifffahrtsgesellschaft vor einigen Jahren die Unterhaltsarbeiten nicht mehr alleine tragen, sagt Hitz, «und die Denkmalpfleger ignorierten das industrielle Kulturgut». Daran habe sich bis heute wenig geändert: Dem industriellen Erbe der Schweiz, das in vielen privaten Sammlungen von Freiwilligen gerettet wurde, drohe der Untergang. Nun redet sich Hitz ins Feuer: «Tell und Heidi gelten in unserem Geschichtsbewusstsein mehr als die Leistungen der Industriepioniere wie Sulzer oder Escher.»
Sulzer zum Beispiel, die in diesem Jahr ihr 175-jähriges Bestehen feiert, schienen die zehn Dampfmaschinen gleichgültig zu sein, die im Vaporama fünfzig Jahre ihrer Firmengeschichte präsentierten. Das Bundesamt für Kultur hülle sich in Schweigen, und das Landesmuseum sehe im industriellen Erbe keinen Schwerpunkt der Schweizer Geschichte. Dabei hätten Industrielle, Erfinder, Ingenieure und Arbeiter wesentlich den guten Ruf der Schweizer Wirtschaft begründet, «der in jüngerer Zeit mithilfe von Politikern und Bankern tatkräftig und weltweit abgebaut wurde».
Tatsächlich tut sich die Schweiz schwer mit der Erinnerung an die industrielle Vergangenheit. Hans-Peter Bärtschi, der bekannte Industriehistoriker aus Winterthur, hat soeben sein zweites Verzeichnis der Industriedenkmäler in Buchform publiziert: Nach dem Inventar für den Kanton Bern, das 333 Objekte versammelte, veröffentlichte er kürzlich jenes für den Kanton Zürich, das 222 Schauplätze aufweist. «Von diesen sind allein seit der Fertigstellung des Buches bereits wieder sechs zum Abbruch freigegeben worden», veranschaulicht Bärtschi den rasanten Niedergang.
Beispiel Textilindustrie: Ende des 18. Jahrhunderts zählte der Kanton Zürich 40 000 Spinnräder und Webstühle, viele davon wurden später mit Dampfkraft betrieben – 2009 gibt es noch eine Spinnfabrik und vier Webereien. Zwar sind zahlreiche Gebäude erhalten geblieben, doch Web- und Dampfmaschinen sucht man darin meist vergebens: Von den Fabriken stehen in vielen Fällen nur mehr die Hüllen, im Innern haben sich Loftwohnungen und schicke Ateliers breitgemacht.
Illegale Aktion
«Industriekultur hat in der Schweiz einen schweren Stand», resümiert Bärtschi, «das Thema konnte sich trotz sehr guter Ansätze nicht durchsetzen.» Als positive Beispiele nennt der Architekt und Historiker etwa die Albula- und Berninastrecke der Rhätischen Bahn oder die Uhrenregion La Chaux-de-Fonds / Le Locle, die ins Welterbe der Unesco aufgenommen wurden. Auf der anderen Seite aber wird abgerissen und entsorgt, was dem schnellen Profit im Weg steht.
Aktuelle Beispiele aus Zürich: Vom Maag-Areal mit seinen typischen Industriebauten blieb fast nichts übrig, weil darauf der Primetower, mit 126 Metern das höchste Hochhaus der Schweiz, zu stehen kommt; gleich nebenan, in der Überbauung Puls 5, liessen die Promotoren über Nacht illegal einen geschützten Schmelzofen verschwinden, weil er nicht zur glänzenden Glasfassade passte (pikant: Im Innern der Halle, die aus der Hülle der ehemaligen Giesserei besteht, hat sich das Restaurant Gnüsserei eingerichtet, das einen stillgelegten tonnenschweren Hochofen aus Burgdorf importieren musste, um zu einem stilechten Dekor zu kommen).
Ein weiterer wichtiger Zeuge der industriellen Geschichte steht kurz vor dem Abriss: Der Güterbahnhof Zürich, ein Schutzobjekt von kommunaler Bedeutung, wird in naher Zukunft dem geplanten Polizei- und Justizzentrum weichen müssen, obwohl der Bau laut Schweizer Heimatschutz «schweizweit ungewöhnlich» und «weit über regionales Niveau von Bedeutung» sei. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen.
Nach Grenchen oder Winterthur?
«Die Schweiz liegt bezüglich nationaler Bemühungen für das Industrial Heritage unter dem Standard einzelner lateinamerikanischer oder asiatischer Schwellenländer», kommentiert Bärtschi. Und er muss es wissen, denn der Winterthurer nimmt in rund vierzig Vereinen, Stiftungen und GmbHs Einsitz, die sich für den Erhalt der Industriezeugnisse engagieren. Bärtschi wirkt auch als National Representative beim Internationalen Komitee zur Erhaltung des industriellen Erbes (TICCIH) mit – «und zwar als einziger Ländervertreter ohne staatliche Abgeltung; die übrigen dreissig Staaten haben bezahlte Delegierte». Aufs Vaporama angesprochen, meint Bärtschi, der die Thuner Sammlung zweimal bewertet hat und als «sehr wertvoll» bezeichnet, dass ein solches Vorhaben nur gelingen könne, «wenn alle am selben Strick ziehen, also Stadt, Kanton, Tourismus und Kultur».
Das glaubt auch Peter Egli, der beim Schweizer Heimatschutz das Dossier Industriekultur betreut. Bei erfolgreichen Aktionen stecke «viel Netzwerken und kluge Öffentlichkeitsarbeit dahinter». Ohne besonderes Geschick in diesen Bereichen sei bei den knappen finanziellen Mitteln im Bereich Denkmalerhaltung wenig zu erreichen, denn – und hier liegt wohl das grosse Manko der einst stolzen Industriezeugen – «die Denkmäler als solche sind in der heutigen Wahrnehmung zu unspektakulär. Im Vergleich zu anderen Objekten wie Altstädten, Burgen, Kirchen oder Museen werden Bauten der Industriekultur von einer breiten Öffentlichkeit immer noch zu selten als Denkmäler wahrgenommen.»
Deshalb engagiere sich der Heimatschutz für diese Denkmäler; zum Beispiel vergab er 2005 den Wakkerpreis an die SBB, und er erwähnt Industrieobjekte regelmässig in Publikationen wie «Baukultur entdecken» oder «Die schönsten Verkehrsmittel der Schweiz». Vielleicht aber, so sinniert Peter Egli, sei es der Schweiz so lange so gut ergangen, dass viele Industrierelikte keine Chance auf Bewahrung gehabt hätten: «Ein Problem liegt im grossen Druck auf die Industriebrachen, die oft im Interesse der Investoren leer geräumt werden, um unproblematischen Überbauungen mit sicherem Profit Platz zu machen. Da ist der finanzielle Druck in anderen Ländern vielleicht etwas kleiner, was dort zum Überleben wichtiger Zeugnisse der Industriekultur beiträgt.»
Wie es mit dem Vaporama weitergeht, ist ungewiss. Inzwischen haben zwei Städte Interesse angemeldet, die Sammlung oder Teile davon zu übernehmen. Zum einen will der Stadtpräsident von Grenchen SO, Boris Banga, die historischen Maschinen ans bestehende Kultur-Historische Museum angliedern, andererseits hat ein Grüppchen um den umtriebigen Hans-Peter Bärtschi angekündigt, die Kolosse nach Winterthur zu holen.
So oder so: Wer den Zuschlag erhält, muss tief Luft holen: Allein für Umzug und Grundinvestitionen sind vier bis fünf Millionen Franken nötig, daneben dürften jährliche Betriebskosten von etwa 300 000 Franken anfallen. Und um die einstigen Prunkstücke der Schweizer Maschinenindustrie richtig in Szene zu setzen, braucht es eine Halle mit einer Fläche von zirka 3000 Quadratmetern.