Die 54. Biennale in Venedig: Gut belüftete Ränder

Nr. 25 –

Die Hauptausstellung der Kunstbiennale Venedig erreicht das Niveau einer mittelmässigen Lichtschau. Die Highlights finden sich in den einst geschmähten nationalen Pavillons.


Nach dem medialen, von Lokalchauvinismus gepushten Hype um die erste Schweizerin, die eine Venedig-Biennale kuratiert, gab es vor Ort viele enttäuschte und ratlose Gesichter. Langweilig sei die von Bice Curiger kuratierte Schau, konzeptlos und ohne inneren Zusammenhang.

Vielleicht liegt es an der titelgebenden Wortschöpfung «ILLUMInations», mit der Curiger auf die zentrale Rolle des Lichts in der bildenden Kunst verweisen und gleichzeitig das Thema des Nationalen, der Nation ins Spiel bringen will – ein Ansatz, der beim besten Willen nicht aufgehen kann, zu verschieden sind die beiden Begriffe, als dass sich mit ihnen ein stimmiger Bedeutungsraum aufspannen liesse. Vielleicht ist es die schiere Menge arrivierter Galerienkunst westeuropäischer und US-amerikanischer Provenienz, wie wir sie von der Kunstzeitschrift «Parkett» kennen, der Curiger neben ihrem Kuratorinnenjob am Kunsthaus Zürich als Chefredaktorin vorsteht. Selbst der Einbezug von Jacopo Tintoretto, einem venezianischen Maler des 16. Jahrhunderts, sowie drei von Kunstschaffenden kuratierten Parapavillons vermag die allzu dröge Anlage kaum aufzumischen – zumal die Integration eines alten Meisters in eine Schau zeitgenössischer Kunst derzeit zum kuratorischen Standardrepertoire gehört. Immerhin begegnet man in den Parapavillons einigen interessanten KünstlerInnen, so David Goldblatt, der mit seinen schwarz-weissen Fotografien aus den Suburbs von Johannesburg Welthaltiges in die mit Tapetenmustern bekleidete Holzkonstruktion von Monika Sosnowska bringt.

Die Biennale sei eine Windmaschine, liess ihr Präsident, Paolo Baratta, im Vorfeld verlauten. Doch das laue Lüftchen, das in diesem Sommer durch die prunkvollen Fassaden Venedigs weht, vermag die Selbstzufriedenheit und Saturiertheit der Kunstwelt nicht wirklich aufzumischen.

Der Wind hat gedreht

Nicht in der grossen Ausstellung «ILLUMInations», wie es der Titel verspricht, findet die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Nationalen statt, sondern ausgerechnet in den lange als überholt geltenden nationalen Pavillons. Bereits 1968 forderten italienische Studierende im Zuge der Mairevolte die Abschaffung der Nationalpavillons, ohne Erfolg. An anderen Orten wie zum Beispiel São Paulo wurde das Konzept der Länderrepräsentation längst fallen gelassen, an vielen neuen Biennalen gar nicht erst installiert.

Heute hat der Wind gedreht: Mit viel beachteten Interventionen ist es einzelnen Ländern in den letzten Jahren gelungen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – nicht zuletzt deshalb, weil sie die Idee der nationalen Repräsentation, die sie eigentlich vertreten, akkurat infrage stellen. So liess etwa der Künstler Santiago Sierra 2003 den Haupteingang des spanischen Pavillons zumauern: Nur wer einen spanischen Pass vorweisen konnte, durfte das leere Gebäude durch einen bewachten Hintereingang betreten – ein stimmiger Kommentar zur Festung Europa und der Ausgrenzung von MigrantInnen.

Gleichzeitig nimmt die Zahl der nationalen Pavillons stetig zu: In diesem Jahr sind 89 Länder in Venedig vertreten, nur ein Bruchteil davon findet auf dem zentralen Gelände der Giardini Platz. Eine Reihe von «Collateral Exhibitions» kommt neuerdings hinzu. So ist es sinnvoll, für einmal die Prioritäten anders zu setzen und sich stärker den in der ganzen Stadt verteilten Veranstaltungen zu widmen. Zwar sind diese nicht immer einfach zu finden – dafür lernt man dabei ein unbekanntes Venedig abseits der touristischen Trampelpfade kennen.

«Dein Land existiert nicht»

Ein Abstecher zum Palazzo Zenobio im Stadtteil Dorsoduro lohnt sich allein wegen des wunderbaren Beitrags von Island. Inmitten eines prächtigen Parks prangt an der Aussenwand eines heruntergekommenen Waschhauses in Neonlettern der Schriftzug «Il tuo paese non esiste» (Dein Land existiert nicht). Im Innern des Waschhauses dokumentiert ein Film die Gondelfahrt dreier MusikerInnen durch Venedigs Kanäle; begleitet von einem Trompeter und einem Gitarristen, bietet die Sängerin eine zeitgenössische Serenade dar, die von sozioökonomischen Themen wie Neoliberalismus und Globalisierung handelt, von Völkern ohne Land wie beispielsweise den Kurden. Gleichzeitig schwenkt die Kamera auf Touristengruppen oder auf illegale afrikanische Händler, die rasch ihre Habe zusammenpacken müssen, weil sie offenbar von der Polizei verfolgt werden. Dazwischen erzählt eine Venezianerin von ihrem Palazzo, der seit über 120 Jahren in Familienbesitz ist, von ihrer Mutter, die dort geboren wurde und kürzlich im Alter von 98 Jahren verstorben ist.

Die Arbeit des Künstlerduos Libia Castro und Olafur Olafsson vereint auf beeindruckende Weise Poesie und politische Analyse, venezianischen Alltag und Episoden einer transkulturellen Gesellschaft – und dekonstruiert ganz nebenbei das Konzept des Nationalen auf höchst intelligente Weise.

Gleich nebenan zeigt die russische Künstlerin Anastasia Khoroshilova ihre Installation «Starie Novosti» (Alte Neuigkeiten), die aus neun kofferähnlichen Fotolichtboxen besteht: Neben grossformatigen Porträts von Müttern, die während des Terroranschlags auf eine Schule in Beslan 2004 als Geiseln genommen wurden und fast alle ihre Kinder verloren, sind in den Boxen kleine Bildschirme platziert, in denen Ausschnitte aus Fernsehberichten über das Drama von Beslan in Nordossetien zu sehen sind.

Manifest des Widerstands

Geradezu mutig für Schweizer Verhältnisse ist die Entscheidung, einer jungen Künstlerin und Kuratorin die Verantwortung für den zweiten offiziellen Schweizer Beitrag an dieser Biennale zu übertragen. Andrea Thal betreibt in Zürich den Offspace «Les Complices», wo sie – ähnlich wie nun im Teatro Fondamenta Nuove in Venedig – ein Programm präsentiert, in dem sich Kunst, Theater und Experimentalfilm vermischen. In «Chewing the Scenery», so der Titel ihres venezianischen Konzepts, geht es um fluide Identitäten, die sich der sozialen Norm verweigern und neue Spielräume für abweichendes Verhalten eröffnen. «Chewing the Scenery» ist ein Begriff aus der Theatersprache und steht für ein melodramatisches Übertreiben, das «overacting» einer gegebenen Rolle; gleichzeitig verweist das Wort «chewing» (kauen) auf den performativen Spielraum, der jedem Schauspieler trotz präzisem Skript zur Verfügung steht.

In der Filminstallation «No Future/No Past» lässt das Künstlerinnenduo Pauline Boudry und Renate Lorenz vier Performerinnen in einem Punkambiente auftreten, die nach den Anweisungen eines Regisseurs Sätze wiederholen und individuell interpretieren – oder auch mal eine Gitarre zertrümmern. Die gleichen Schauspielerinnen, die gleichen Sätze, das gleiche Setting – doch einmal spielt das dargebotene Stück in Berlin im Jahr 1976, das andere Mal im Jahr 2031. Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft erweisen sich hier als ebenso überholt wie eindeutige geschlechtliche Zuordnungen der Performenden, die Namen von PunkmusikerInnen wie Darby Crash oder Poly Styrene tragen.

Obwohl politisch aufgeladen, verzichten Boudry/Lorenz – ebenso wie der zweite Beitrag von Tim Zulauf/KMU Produktionen – auf explizite Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und lassen viel Raum für eigene Assoziationen der Betrachtenden.

Das kann man von «Crystal of Resistance» von Thomas Hirschhorn im Schweizer Pavillon nicht behaupten, das als «Manifest des Widerstands» an seiner eigenen Rhetorik zu ersticken droht. In gewohnt exzessiver Manier müllt Hirschhorn in einer All-Over-Installation die modernistische Architektur zu – alles ist mit Aluminiumfolie ausgekleidet, darin ausgebreitet ein Sammelsurium von Plastikstühlen, Aludosen, Flaschen, zerbrochenen Spiegeln, Handys, Kristallen sowie brutalsten Kriegsbildern. Selbst die bisher wohlgesinnte Kritik reagiert inzwischen irritiert auf Hirschhorns Holzhammerdidaktik.

Eine Mischung aus Kibbuz und KZ

Das Schöne an der Biennale von Venedig ist, dass man immer wieder auf Werke trifft, die aus dem Meer des Mittelmässigen und allzu Glatten herausragen. Einer dieser raren Momente lässt sich im polnischen Pavillon erleben, wo die holländisch-israelische Künstlerin Yael Bartana drei eindringliche Videoprojektionen zeigt, die sich alle um das von ihr gegründete Jewish Renaissance Movement in Polen drehen – eine politische Gruppierung, die sich um die Rückkehr der über drei Millionen Juden bemüht, die nach Israel emigriert sind. In einer Bildsprache, die sich an die Ästhetik des Propagandafilms anlehnt, zeigt Bartana eine enthusiastische Gruppe junger Menschen, die in Warschau eine Anlage bauen, die wie eine Mischung aus Kibbuz und KZ wirkt.

Arbeiten, die eine Dringlichkeit vermitteln, gehören eigentlich zum Grundinventar einer jeden Biennale. Meist entstehen diese an Orten, die nicht zu den privilegierten dieser Welt zählen. In Venedig ist heuer davon wenig zu sehen. Nur punktuell, beispielsweise im lateinamerikanischen Pavillon, erzählen einige Videoarbeiten von alltäglicher Not, etwa im Video «Estructure Completa» (2010) von David Pérez Karmadavis, in dem ein blinder Dominikaner eine beinlose Haitianerin durch die Strassen trägt. Zusammen bilden sie eine «funktionale Einheit» – und sind gleichzeitig ein Sinnbild für die geteilte Insel, auf der sie leben.

54. Biennale Venedig. Bis 27. November 2011. www.labiennale.org

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