«Wer, wenn nicht wir»: Zwischen Klischee und verstörenden Einblicken
Der preisgekrönte deutsche Dokumentarfilmer Andres Veiel hat einen Spielfilm über die Vorgeschichte der RAF gedreht. Eine Liebesgeschichte mit beschränkt nachhaltiger Wirkung.
Er tritt erst im letzten Drittel des Films auf, tuntenhaft geschminkt platzt er in die rauchgeschwängerte WG-Runde und fordert «eins in die Fresse» statt bloss Worte. In der nächsten Szene drückt er sich an den Busen einer Cabaretsängerin und trällert gemeinsam mit ihr ins Mikrofon.
Andreas Baader (Alexander Fehling) sei zu Beginn der sechziger Jahre jemand gewesen, der sich selbst stets neu inszeniert und in unterschiedlichen Rollen ausprobiert habe – «ich bin Mann, ich bin Frau, ich bin viele», so Andres Veiel, der Regisseur von «Wer, wenn nicht wir», in einem Interview. In seiner erneuten Auseinandersetzung mit der Roten Armee Fraktion (RAF) hat sich Veiel, der vielfach preisgekrönte Dokumentarfilmer aus Deutschland, nun erstmals an das Spielfilmformat gewagt und Biografisches ins Zentrum gerückt.
Dabei erzählt «Wer, wenn nicht wir» – und das ist die Stärke dieses Films – gerade nicht, wie es dazu kommen musste, dass Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) und Andreas Baader in den Untergrund gingen.
Sorgfältige Recherche
Andres Veiel präsentiert uns in seinem Film eine tragische Liebesgeschichte, in der Gudrun Ensslin, Pfarrerstochter, und Bernward Vesper (August Diehl), Sohn eines Nazidichters, die Hauptfiguren sind. Wie auch für seine Dokumentarfilme, in denen er sich bereits mit der RAF auseinandersetzte, hat Veiel die historischen Hintergründe sorgfältig recherchiert. «Wer, wenn nicht wir» basiert auf Gerd Koenens Buch «Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus». Darüber hinaus hat der Filmemacher mit zahlreichen Angehörigen, FreundInnen und Bekannten der ProtagonistInnen gesprochen und Archive durchforstet. Trotzdem überzeugt das Resultat nicht: Der Genrewechsel ist Veiel nicht bekommen.
Eros und Thanatos
Das liegt keinesfalls am Handwerk. Sowohl die detailreiche Ausstattung des Films wie auch die schauspielerischen Leistungen sind brillant. Nicht so allerdings die erzählerischen Mittel, die der Regisseur gewählt hat. Der parabelhafte Rahmen der Geschichte etwa, die damit beginnt, dass Vesper als Junge seine Katze, die schon wieder eine Nachtigall gefressen hat, vor seinem Vater zu verstecken sucht. Doch der findet und erschiesst sie – «weil Katzen nicht zu uns gehören», wie er seinem Sohn erklärt, «sie sind die Juden der Tierwelt.»
Sehr viel Symbolträchtiges und viel Bedeutungsschwangeres schwebt auch über der Liebesgeschichte selbst: Veiel, der ursprünglich Psychologie studiert hat, lässt Eros und Thanatos, Freuds Sexual- und Todestrieb, das Schicksal der drei Protagonisten steuern. «Liebe verwirklicht sich erst durch den Tod», sagt Ensslin in Anlehnung an den von ihr verehrten Schriftsteller Hans Henny Jahnn irgendwann, und: «Durch Gewalt, durch Mord wird es erst möglich, dass Sexualität gelebt wird.» Immer wieder verdichtet Veiel dies in Szenen, in denen Ensslin sich selbst verstümmelt – psychisch, wenn sie Vesper erlaubt, die Geliebte mit nach Hause zu bringen; physisch, wenn sie sich nackt auf einen Scherbenhaufen hockt.
Neue Bilder für seinen zerstörerischen Liebesreigen inmitten der Aufbruchstimmung der fortschreitenden sechziger Jahre findet der Filmemacher indes kaum. So wirkt es reichlich klischiert, wie Bernward Vesper und Gudrun Ensslin mit hoher Geschwindigkeit im offenen VW-Käfer dem Neuanfang ihrer Beziehung in Berlin entgegenbrausen und Vesper seiner auf dem Beifahrersitz tanzenden Gefährtin gleichzeitig die Kleider vom Leib zu reissen versucht.
Und wenn Veiel seine Liebesgeschichte unterbricht und auf dokumentarisches Bildmaterial zurückgreift, um den zeitgenössischen Hintergrund darin einzuweben, nehmen die Klischees endgültig überhand und überziehen «Wer, wenn nicht wir» mit der allzu wohlbekannten Krieg-und-Pop-Metapher: Die Abfolge an dokumentarischen Einschüben reiht tausendfach gesehene Bilder aneinander – atomare Bedrohung, Kubakrise, Eichmann-Prozess, Kennedy in Berlin, Strassenkämpfe beim Schahbesuch 1967 und Ermordung von Benno Ohnesorg, Attentat auf Rudi Dutschke, Bomben über Vietnam – und übertüncht sie mit ebenso oft gehörtem zeitgenössischen Popsound.
Den Auftrag zu Ende führen
Das kann Veiel besser, viel besser. In seinem Dokumentarfilm «Black Box BRD» aus dem Jahr 2001 etwa. Auch darin nähert sich der Filmemacher zwei Figuren, die exemplarisch für die gesellschaftlichen Konflikte in Deutschlands «bleiernen Jahren» stehen: Alfred Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, 1989 von der RAF ermordet, und Wolfgang Grams, RAF-Mitglied, 1993 bei seiner Verhaftung erschossen. Wie in einem Puzzle setzt Veiel die Aussagen von Angehörigen, FreundInnen und KollegInnen zu einem facettenreichen Bild zusammen, das weit über die Protagonisten hinausweist und das Psychogramm einer Gesellschaft zeichnet, die noch immer mit der unbewältigten Vergangenheit ringt.
So bezeichnen Herrhausens Bankkollegen ihn, der einst eine Eliteschule der Nazis besuchte, bewundernd als «Siegfried» und verehren ihn dafür, ihnen eingetrichtert zu haben, was sie täten, sei «honorig», weil es dann «irgendwie vorbei war mit dem schlechten Gewissen». Während Grams Vater händeringend und mit eindringlichem Blick in die Kamera nach Worten sucht, um verständlich zu machen, warum er sich damals bei der Waffen-SS beworben hatte. Gestik und Mimik sagen in diesen langen Sekunden weit mehr aus über seine innere Zerrissenheit und seine Schuldgefühle, als was er letztlich hervorbringt: «... um dem Staat zu dienen, so wie es jeder andere normalsterbliche Hitlerjunge auch gemacht hätte.»
In solchen Momenten schafft Veiel mit dokumentarischen Mitteln eine Eindringlichkeit und Authentizität, die weit stärker nachwirkt als jene, die er in «Wer, wenn nicht wir» mit fiktionalen Mitteln anstrebt. Wobei er es schafft – und das zeichnet Veiel in all seinen Filmen aus –, das Schema von Gut und Böse aufzubrechen. Zum einen zeigt er die Figuren in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit, in ihren Irrungen, Wirrungen und inneren Zerrissenheit. Weshalb etwa hilft Ensslin Vesper aktiv dabei, die Nazischriften seines Vaters neu zu verlegen, ja, schreibt sogar positive Rezensionen über sie?
Zum andern, und das ist weitaus verstörender, lassen Andres Veiels Figuren erkennen, dass die Protagonisten der späteren RAF weit mehr mit ihrer Elterngeneration teilen als gemeinhin wahrgenommen. Sie alle besitzen diesen Absolutheitsanspruch, bewundern Stärke, betonen Konsequenz und verordnen sich Härte gegen die eigenen Gefühle – sie sind auf Mission. Ensslin, Baader und auch Vesper haben alle einen Auftrag, wie sie selbst sagen. Und der kreist darum, zu Ende zu führen, was die Eltern nicht geschafft haben: die Lügen aufdecken – wie es Vesper mit seinem Romanessay «Die Reise» auf sehr persönliche Weise unternahm – und in den Widerstand gehen. Wer, wenn nicht wir.