Ernährungssouveränität: Quer in der Landwirtschaft
Nach der Juso, dem Bauernverband und den Grünen lanciert auch die bäuerliche Gewerkschaft Uniterre eine agrarpolitische Initiative. Die Vorlage ist ein radikaler Denkanstoss.
Ausgerechnet die Flüchtlinge sollen es richten. Wenn es nach dem Schweizerischen Bauernverband geht, sollen sie die Polen, Rumäninnen und Ungarn ersetzen, die heute auf Schweizer Feldern arbeiten. So wäre es vielleicht möglich, die «Masseneinwanderungsinitiative» umzusetzen, ohne dass die Schweizer LandwirtInnen in Engpässe geraten.
Mit ihrem Vorschlag zeigen die VertreterInnen des Schweizerischen Bauernverbands, die alles andere als flüchtlingsfreundlich eingestellt sind, was sie selbst von der Arbeit landwirtschaftlicher Angestellter halten: Sie ist das Letzte. Das stimmt auch – Angestellte im Gemüsebau arbeiten in fast allen Kantonen 55 oder mehr Stunden in der Woche und machen oft tagelang dasselbe: im stickigen Treibhaus Tomatentriebe ausbrechen, auf dem Bauch liegend Gurken ernten, mit steif gefrorenen Fingern Nüsslisalat schneiden. Anstrengend, monoton – und das alles für einen Lohn, mit dem sich in der Schweiz kaum leben lässt (siehe WOZ Nr. 17/14 ).
Fehlende Wertschätzung
Anstrengend wird diese Arbeit immer bleiben. Aber eintönig ist sie nur, weil die Betriebe immer grösser und spezialisierter werden. Gehetzt und entwürdigend ist sie, weil die Wertschätzung für die Nahrungsproduktion verloren gegangen ist – eine Wertschätzung, die sich über den Preis ausdrückt, aber nicht nur. Beides hängt zusammen: Je anonymer und globalisierter die Lebensmittelindustrie wird, desto grösser wird die Distanz zu den Menschen, die die Tiere und Pflanzen, von denen unsere Nahrung stammt, gepflegt – oder ausgebeutet – haben.
Um Wertschätzung zu ermöglichen, sind andere Strukturen notwendig. Es braucht mehr Nähe, direkte Kontakte zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen. Und es braucht eine Politik, die solche Initiativen fördert und den rein profitorientierten Strukturen Grenzen setzt.
Die bäuerliche Gewerkschaft Uniterre fordert genau das. Sie hat diese Woche eine «Initiative für Ernährungssouveränität» lanciert, die völlig quer in der agrarpolitischen Landschaft steht – weit entfernt von der Politik des Bauernverbands, aber auch von jenen Linken, die gleichzeitig Ökologisierung und Freihandel fordern. Im Initiativtext steht unter anderem, der Bund müsse «die Erhöhung der Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen» fördern – heute macht er, wie fast alle Regierungen der Welt, das Gegenteil.
Der Bund soll bäuerliche Organisationen unterstützen, die das Warenangebot auf «die Bedürfnisse der Bevölkerung» abstimmen – das wäre vor allem bei der Milch ein Thema, um Überschüsse zu vermeiden. Er soll den direkten Handel und «regionale Verarbeitungs-, Lagerungs- und Vermarktungsstrukturen» fördern, die Markttransparenz gewährleisten und darauf achten, «dass in allen landwirtschaftlichen Produktionszweigen (…) gerechte Preise festgelegt werden». Nur schon die Diskussion darüber, was ein gerechter Preis ist, dürfte spannend werden.
Ebenso will die Ernährungssouveränitätsinitiative den Import von Lebensmitteln, deren Produktion schweizerische Öko- und Sozialstandards verletzt, beschränken – wie die Fair-Food-Initiative der Grünen. Und sie will Gentechnik in der Landwirtschaft und Exportsubventionen verbieten.
Dringend nötige Grundsatzdiskussion
Hinter den vielen Forderungen steht ein Konzept: Ernährungssouveränität, wie sie die globale bäuerliche Bewegung Via Campesina, der auch Uniterre angehört, entwickelt hat. Das Verbot von Exportsubventionen ist ein ganz wichtiger Teil davon: Kein Land soll seine Überschüsse in anderen Ländern verbilligt «entsorgen» – wie es die Schweiz mit der Butter macht – und damit die dortigen Bäuerinnen ruinieren. Ernährungssouveränität ist kein nationalistisches Konzept, eher ein regionalistisches, und es geht dabei nicht um Autarkie: Handel wird es auch in einer ernährungssouveränen Welt brauchen, aber als Ergänzung der regionalen Produktion und nicht als Selbstzweck wie heute.
Neben den agrarpolitischen Initiativen von Uniterre und den Grünen stehen noch zwei weitere an: jene für ein Verbot der Nahrungsmittelspekulation von der Juso und die Initiative für Ernährungssicherheit des Bauernverbands; letztere ist ein Papiertiger. Uniterre wird es am schwersten von allen haben. Im Gegensatz zu den anderen drei Initiativkomitees fehlt ihr jedes realpolitische Kalkül. Das ist gleichzeitig die Schwäche und die Chance der Initiative: Einerseits droht sie schon bei der Unterschriftensammlung zu scheitern, ohne dass breite Kreise mitbekommen haben, worum es geht. Andererseits ermöglicht gerade ihre Radikalität eine dringend nötige Grundsatzdiskussion.
Ernährungssouveränität würde im Norden Umwelt- und Überschussprobleme lösen und den Süden widerstandsfähiger gegen Hunger machen. Wer sich intensiv mit diesen Themen beschäftigt hat, weiss das: Jean Ziegler unterstützt die Initiative genauso wie Hans Rudolf Herren, Kopräsident des Weltagrarberichts von 2008 und alternativer Nobelpreisträger, der in Afrika raffinierte biologische Pflanzenschutzmethoden entwickelt hat. Die Initiative greife verschiedene Themen auf, die ihm sehr am Herzen lägen, sagt Herren auf Anfrage: «Seit Jahren kämpfe ich weltweit für einen Kurswechsel zu einer ökologischen und sozialen Landwirtschaft, basierend auf kleinbäuerlichen Strukturen und vermehrtem lokalem Vertrieb der Nahrungsmittel.»
Jetzt müssen es nur noch die Schweizer PolitikerInnen merken.