Flann O’Brien: Gleich hinter der nächsten irischen Ecke
Verbrannte Manuskripte, Molekülübertragungen, ein Barkeeper namens James Joyce: Wir sind im Universum des irischen Schriftstellers Flann O’Brien. Diesen Monat lässt sich sein 100. Geburtstag feiern.
Kartoffeln. Kartoffeln und Regen. Und Kartoffeln. Und Trinken. Und Regen. Das ist Irland. So beschreibt es der Ire Flann O’Brien in seinem Roman «Irischer Lebenslauf» (1941). Der ist eine bitterböse Satire auf die zu seiner Zeit grassierende Irischtümelei, die Verherrlichung der «irischen Volksseele», und mündet dann doch in eine scharfe Kritik an England und dessen Schuld an der Verarmung Irlands.
Aber den Roman hat Flann O’Brien wohl nur geschrieben, um zu zeigen, dass er so etwas auch kann. Sein Ruhm als literarischer Geheimtipp und seine Stärke liegen in anderen Texten begründet. Da ist vor allem «In Schwimmen-zwei-Vögel» (1939). Der unmögliche Titel ist ein irischer Ortsname, wörtlich ins Englische und dann ins Deutsche übertragen. Erzählt wird das Buch in Ich-Form von einem verbummelten Studenten, der darüber schreibt, wie ein verbummelter Pubbesitzer namens Trellis ein Buch schreibt. Dabei erklärt der Ich-Erzähler zu Beginn: «Ein Anfang und ein Ende pro Buch waren etwas, das mir nicht behagte. Ein gutes Buch kann drei völlig verschiedene Anfänge haben, die nur im vorausschauenden Wissen ihres Verfassers zusammenhängen, und mindestens hundertmal so viele Schlüsse.»
Natürlich, solch selbstbezügliches Spiel mit der Romanform gibt es schon im «Tristram Shandy» (1759) des englischen Autors Laurence Sterne. Doch O’Brien zieht den Scherz mit drei Erzählsträngen konsequent durch – na ja, mehr oder weniger konsequent, weil man sich in drei Geschichten in beliebig vielen Abzweigungen verlieren kann. Ganz abgesehen von den dazwischengeschalteten Kommentaren und Zusammenfassungen des Erzählten. Und das alles hat weitergehende Konsequenzen, wie der Ich-Erzähler im Kreis seiner müssigen Gesprächspartner erläutert: «Es sei undemokratisch, Romanfiguren zu zwingen, eindeutig gut oder böse, arm oder reich zu sein. Jeder von ihnen sollte ein Privatleben, Selbstbestimmung und ein anständiger Lebensstandard gewährt werden.» Was ironisch postuliert wird, wird im Roman zugleich praktisch vorgeführt. Denn die Figuren im Roman des Wirts Trellis lassen sich mit der Zeit ihr aufgezwungenes, fremdbestimmtes Leben nicht mehr gefallen und erfinden einen illegitimen Sohn ihres Schöpfers, der seinerseits ein Buch als Anklageschrift gegen seinen Vater beginnt. Der Autor Trellis wird vor diesem Aufstand durch sein Dienstmädchen gerettet, das versehentlich die Manuskripte verbrennt und damit auch die rebellischen Figuren in Rauch aufgehen lässt.
Fantastisches
Das tönt verwickelt und kompliziert. Ist es aber nicht (oder nur ein bisschen). Vor allem ist es witzig und komisch. Die verschiedenen Ebenen werden spielerisch miteinander gekoppelt, die Dialoge sind umwerfend genau dem Alltagslärm abgelauscht. Und enteilen immer wieder ins Fantastische. Einige Passagen des Buchs, nämlich die satirische Auseinandersetzung mit der irischen Volkstradition und Mythologie, haben gealtert. Ich empfehle schamlos, sie gelegentlich zu überblättern – schliesslich muss man in einer Bibliothek, die dieses Buch ist, nicht alle Bücher lesen.
Hinter dem Pseudonym Flann O’Brien steckt Brian O’Nolan. 1911 in Nordirland in einer gut situierten Beamtenfamilie geboren, studierte O’Nolan in Dublin, publizierte in literarischen Zeitschriften und gab selbst eine heraus. 1937 trat er in den irischen Staatsdienst ein und wurde Ministerialsekretär. Nach dem ersten Roman «In Schwimmen-zwei-Vögel» begann er ab 1940 eine Kolumne in der «Irish Times» unter einem anderen Pseudonym, Myles na gCopaleen. Die Kolumne wurde bald zum Kult. Während des Zweiten Weltkriegs hatte sich Irland, als Abgrenzung von Britannien, für neutral erklärt und war dadurch in eine vormoderne Paralyse gefallen, die auch nach dem Krieg anhielt. Da brachten die Spöttereien und Respektlosigkeiten von Myles na gCopaleen einigen frischen Wind; sie wurden mehrfach in Anthologien gesammelt.
Unterkühlt
O’Nolans zweiter Roman als Flann O’Brien, 1940 geschrieben, fand allerdings keinen Verleger; er wurde 1967, ein Jahr nach seinem Tod, posthum veröffentlicht. «Der dritte Polizist» beginnt mit einer weiteren etwas elenden irischen Geschichte und mündet nach wenigen Seiten in einen vom Ich-Erzähler begangenen und mit sachlicher Kälte beschriebenen Mord. Als der Erzähler Jahre später den Schatz seines Opfers sucht, verliert er plötzlich das Wissen um sich und seinen Namen und findet sich in einer fremden Welt wieder, in der die Tatsache, dass der Ermordete noch lebt, seine geringste Sorge ist. So taucht Joe, seine Seele, auf, und Räuber, die wie er ein Holzbein haben, verfolgen ihn. Schliesslich fassen ihn zwei Polizisten, die eine Obsession für Velos entwickelt haben, in denen sie durch eine Molekülübertragung verwandelte Velofahrer vermuten. Das tönt zuweilen wie ein Studentenulk, aber diese Gegenwelt hat ihre unerbittliche eigene Logik und beugt sich zugleich auf sich selbst zurück. Denn zum Schluss – unterkühlt, zum Fürchten erzählt – mag es scheinen, als ob der Ich-Erzähler selbst seit sechzehn Jahren tot wäre.
1961 hatte Flann O’Brien nach zwanzigjähriger Schaffenspause einen neuen Roman veröffentlicht. «Das harte Leben» ist erzähltechnisch konventioneller angelegt. Geschildert wird die Erziehung von zwei Knaben durch einen Exzentriker. Der ältere der beiden wird zum Geschäftsmann, der allerlei dubiose, aber erfolgreiche Projekte betreibt. Der erkrankte Stiefvater erprobt ein Heilmittel seines Adoptivsohns, wird dadurch immer dicker und stirbt, als er bei einem Opernbesuch durch die Decke der Loge bricht. Das ist, für einmal, lakonisch erzählt. Doch wiederum lauert das Absurde gleich hinter der nächsten irischen Ecke; die Absurdität ist dabei keine existenziell verhängte, sondern erwächst aus dem Alltag, aus konkreten Figuren und Situationen.
Schwindel
Dagegen knüpft «Aus Dalkeys Archiven» (1964) an die Frühwerke an. Ein irrwitziger Kampf um die Rettung der Welt führt durch verwickelte Stationen, in denen auch der verstorbene James Joyce als Barkeeper auftaucht, der sich von seinen Werken wegen deren Obszönitäten distanziert. Das Buch enthält umwerfende Passagen skurrilen Witzes; was bei «In Schwimmen-zwei-Vögel» und «Der dritte Polizist» lose, aber konsequent zusammenhing, fällt hier allerdings stärker auseinander und dokumentiert eine abnehmende gestalterische Kraft.
Denn Brian O’Nolan kämpfte seit längerem mit seinem Alkoholismus. 1953 war er aus dem Staatsdienst ausgeschieden und lebte von der journalistischen Arbeit. Doch Anfang der sechziger Jahre verlor er die Stelle als Kolumnist, da er seine Texte nicht mehr zuverlässig liefern konnte; er verkam zusehends. Zwölf Mal soll er die Letzte Ölung erhalten haben. Dann, 1966, mit 55 Jahren, erlag er einem Krebsleiden. Die Fantasien waren wohl nicht mehr auszuhalten. Uns schwindelt bei der Lektüre seiner Bücher weiterhin, aber dieser Schwindel macht den Kopf frei für die Wirklichkeit.
Die Bücher von Flann O’Brien sind in der Übersetzung von Harry Rowohlt in den neunziger Jahren beim 2001 eingegangenen Haffmans-Verlag erschienen und in den letzten Jahren bei Kein & Aber wieder aufgelegt worden. Zum 100-Jahr-Jubiläum ist nun eine von Harry Rowohlt durchgesehene Broschur-Jubiläumsausgabe in acht Bänden erschienen.
Flann O'Brian: Werke. 8 Bände. Kein & Aber. Zürich 2011. Fr. 69.90