Der Dorfkönig: Sie nennen ihn «Behrlusconi»
Der reiche Schaffhauser Unternehmer, Investor, Verleger und Handballmäzen Giorgio Behr ist so mächtig wie umstritten. Die Geschichte eines Tessiner Buben, der eine ganze Region in Atem hält.
Mittwochabend in Schaffhausen. Der Handballverein Kadetten trifft auf Pfadi Winterthur. Es ist Derby und Spitzenkampf im Schweizer Handball – und dennoch eine triste Sache. Das Spiel: schnell entschieden. Der Fanblock: drei mittelmässig motivierte Männer. Die neue 25-Millionen-Franken-Sporthalle: nur zu einem Drittel gefüllt. Und Giorgio Behr, der Präsident, der sich mit den Kadetten Schaffhausen ein kostspieliges Hobby leistet: nicht anwesend.
Es gibt im Umfeld des Handballvereins Leute, die darüber nicht unglücklich sind. «Ist Behr hier, erwartet er, dass wir Stimmung machen», sagt einer. Er will nicht mit Namen genannt sein – wie fast alle, die man zu Giorgio Behr befragt: Es herrscht nicht gerade eine «Omertà», aber Giorgio Behr, einer der reichsten und mächtigsten Schaffhauser, wird gefürchtet im Kanton Schaffhausen – und nicht nur dort.
Behr stammt aus einfachen Verhältnissen. 1948 geboren, wächst er in einer kleinen Arbeiterwohnung in Schaffhausen auf. Seine Jugend wird überschattet vom Tod seines Vaters, eines einfachen Angestellten, und seiner älteren Schwester. Die Mutter bringt Giorgio und seine zweite Schwester fortan alleine durch.
In der Schule sei er beschimpft worden, erzählt eine Schulkollegin. «Tschingg» hätten sie ihn genannt, obwohl seine Mutter nicht aus Italien stammte, sondern aus dem Tessin. «Diese Erfahrung hat ihn enorm geprägt.» 1974, just als die zweite Überfremdungsinitiative die ausländer- und italienerfeindliche Stimmung in der Schweiz anheizt, reicht Giorgio Behr seine Dissertation an der Universität Zürich ein – inklusive italienischer Widmung: «Alla mia cara mamma». Legendär ist, wie er in den neunziger Jahren als HSG-Professor die StudentInnen begrüsst – mit einem italienischen Monolog. Warum? Es scheint, als hausiere Giorgio Behr mit seiner Geschichte: Vom Tessiner Bub zum Professor, Unternehmer, Multimillionär, Investor und Verleger – er hat es geschafft. Und alle sollen davon erfahren.
An der Grenze des Erlaubten
Es könnte auch einfach ein grosses Missverständnis sein. Mal ehrlich: Wer fürchtet sich schon vor einem 63-Jährigen, der seinen Feierabend gerne damit verbringt, auf seiner raumfüllenden Modelleisenbahnanlage Lokomotiven zu rangieren? Vor einem, der als Lieblingsfilm Federico Fellinis «Amarcord» nennt, in dem ausgiebig gewichst und gevögelt und darüber hinaus Mussolinis Faschismus geistreich verwurstet wird?
Andererseits nennen sie ihn in Schaffhausen schon «Behrlusconi»: 2004 kaufte Giorgio Behr, der reichste Mann im Kanton, die auflagenstärkste Zeitung der Region. Seither tut sich der «Schaffhauser Bock» immer unverblümter als Lautsprecher von Behrs Interessen hervor. Diese wirtschaftliche und publizistische Macht paart sich mit einem Charakter, der als «brillant», «zielstrebig» und «durchsetzungsfähig» beschrieben wird. Kritischere Personen sagen, Behr sei «sensationell ehrgeizig», «machiavellistisch» oder gar «getrieben».
Kommt hinzu: Trotz der 450 Millionen Franken, die Behr gemäss «Bilanz»-Schätzung auf der hohen Kante hat, ist sein Hunger nicht gestillt. Im Gegenteil: Seit einigen Jahren macht der im schaffhausischen Buchberg wohnhafte Unternehmer durch immer aggressiveres Gebaren von sich reden.
Im Juni 2007 setzt er in seiner Wohngemeinde eine rückwirkende Steuersenkung durch. Ein historisch einmaliger Vorgang, der im sofortigen Rücktritt des Finanzdirektors gipfelt. «Erpressung» nennt das ein Lokalpolitiker. Ein anderes Beispiel: An einem Schaffhauser Wohnhaus wollte Behr einst einen Fassadenlift errichten lassen – ohne Baubewilligung. Als das Projekt bereits aufgegleist war und sich die von Nachbarn alarmierten Behörden einschalteten, habe er sich unheimlich echauffiert, erzählt eine Anwohnerin. «Dieser Fall ist typisch für Behr», sagt eine entfernte Bekannte. «Seine Einstellung ist: Ich bezahle ja dafür, also wo liegt das Problem?»
Vor allem aber sorgt Giorgio Behr mit Börsendeals für Aufregung in der Schweizer Industrie: Anfang April 2008 wagt er den Versuch einer feindlichen Übernahme des Frauenfelder Schleifmittelherstellers Sia Abrasives. Quasi über Nacht besitzt er über 22 Prozent der Aktien. In der Folge leitet die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) eine Untersuchung ein. Der Grund: Wer mit seinen Stimmrechtsanteilen gewisse Schwellen überschreitet, ist gemäss Börsengesetz verpflichtet, dies zu melden. Sprunghafte Veränderungen können ein Indiz für die Umgehung der Meldepflicht sein.
Im März 2011 veröffentlicht die Finma den Untersuchungsbericht. Für die Aufsichtsbehörde ist erwiesen, dass die Meldepflicht unterlaufen wurde: Die Bank am Bellevue, die die Transaktionen abgewickelt hat und zu deren Gründern Giorgio Behr zählt, hat Aktienpakete in verschiedenen Depots «geparkt», unter anderem bei alten Seilschaften von Behr und beim Kadetten Investment Pool. Damit die Strafuntersuchung eingestellt wird, leistet Behr schliesslich eine Wiedergutmachungszahlung von einer Million Franken. Ein Pappenstiel: Behr kommt mit einer weissen Weste davon – und einem geschätzten Gewinn von 35 Millionen Franken. So viel hat ihm der Weiterverkauf seines bis dahin vierzig Prozent umfassenden Sia-Pakets an Bosch im Herbst 2008 eingebracht.
Schon früher habe Behr die Grenzen des Erlaubten wenigstens ausgereizt, sagt ein alter Bekannter. Er spricht von Behrs Studienzeit, als er nebenbei Handball spielte. Auch Matthias Freivogel, Anwalt und SP-Kantonsrat aus Schaffhausen, stand damals öfter mit Behr auf dem Feld – in gegnerischen Teams, Freivogel im Tor, Behr als Feldspieler. «Ein nicht sonderlich gefürchteter Spieler», erinnert er sich. Dennoch spielte Behr zeitweilig in der Nationalliga A. Ein anderer Beobachter meint, Behr habe wichtige Verteidigungsarbeit geleistet. Im Handball ein Drecksjob: Die Verteidiger stecken viel ein und teilen viel aus: ein stetes Rangeln, Drücken, Schieben, Reissen und Ziehen. Ein «Zerstörer» sei Behr gewesen, sagt der Beobachter.
Eldorado für Buchprüfer
Anfang der siebziger Jahre heuert Behr als Buchprüfer bei Fides an, dem Vorläufer der KPMG. Er gilt als grosses Talent. Und der Erdölschock erweist sich für ihn als Glücksfall: Während der Hochkonjunktur hat die ungezügelte Nachfrage viele strukturelle Mängel der schweizerischen Industriekonzerne kaschiert. Nun offenbaren sich die Konglomerate als undurchschaubare, schlecht geführte, renditeschwache oder gar marode Kolosse. Ein Eldorado für Buchprüfer, insbesondere für die unverbrauchten Jungen.
Auf Giorgio Behr, den Zauberlehrling, wartet im Mai 1977 ein besonderer Leckerbissen. Gerade mal 28-jährig, wird ihm das Nachlassverfahren des konkursiten Mischkonzerns Küderli AG anvertraut. Über fünfzig Tochtergesellschaften im In- und Ausland sind involviert. Behr beugt sich über ihre Bücher, rechnet und entscheidet, welche Firmen verkauft und welche liquidiert werden sollen. Parallel dazu hilft er der Schweizerischen Kreditanstalt bei der Aufklärung des Zwei-Milliarden-Verlustes der Filiale «Chiasso». Nebenbei führt er die Kadetten Schaffhausen als Trainer zum Aufstieg in die Nationalliga B. Gemäss der Behr-Festschrift «25 Jahre Unternehmertum» schliesst er später in diesem Jahr die Ausbildung zum Buchprüfer ab – als Bester von 250 PrüfungsteilnehmerInnen.
Nach diesem Jahr wird sich Giorgio Behr nie mehr mit einem zweiten Platz begnügen.
Freude am Aufschrecken
Dann geht es schnell: Hochzeit, Familiengründung, Selbstständigkeit. 1990 wird er als Professor für Rechnungswesen an die HSG berufen. Während viele seiner HSG-Kollegen den neoliberalen Umbau herbeischreiben, befasst sich Behr mit Rechnungslegung, mit Buchungssätzen, mit Soll und Haben. Ideologie ist seine Sache nicht. Giorgio Behr geht es ums Geld: wo es sich in Bilanzen versteckt und wie es sich am schnellsten vermehren lässt.
1991 erhält er den Auftrag, den in Beringen ansässigen Fabrikatehersteller Bircher AG zu sanieren. Als er keinen Käufer findet, steigen er und das Management selbst in die Hosen. Innert Kürze brummt die Bude. Und Behr beginnt, die übrigen Investoren auszukaufen, bis ihm die Firma allein gehört. Er wird die Bircher AG später erfolgreich zum BBC-Konzern (Behr Bircher Cellpack) ausbauen und zum VR-Präsidenten des Sulzer-Konzerns aufsteigen.
Und im November 2008 steigt Behr beim grössten Schaffhauser Unternehmen, dem Georg-Fischer-Konzern (GF), ein. Wie bei der Sia Abrasives quasi «from zero to hero»: In zwei Tranchen versammelt er binnen drei Tagen einen Anteil von 6,36 Prozent am Konzern. Das machte ihn zum gewichtigsten Einzelaktionär. Als Giorgio Behr zu Jahresbeginn 2011 die GF-Spitze frontal angreift, reagiert der Verwaltungsrat des 1,4-Milliarden-Konzerns kopflos. Ein Gremium immerhin, dem so unerschrockene Männer angehören wie Economiesuisse-Chef Gerold Bührer. «Behr ist wie ein Fuchs im Hühnerstall», sagt ein Insider. Bis heute bleiben seine Absichten mit GF nebulös. Aufgrund seiner Biografie sind verschiedene Interpretationen möglich: Vielleicht ist es unternehmerisches Kalkül, vielleicht Jagdinstinkt, vielleicht auch die Freude daran, als kleiner Tessiner Bub das grosse Establishment aufzuscheuchen.
Oder aber es ist pure Machtdemonstration.
Behrs Machtpolitik macht hier nicht halt. Einer seiner vielleicht bezeichnendsten Coups ist die Monopolisierung des Schaffhauser Handballs zu Beginn der neunziger Jahre. Die Geschichte erzählt Matthias Freivogel, der einstige Torhüter bei Pfader Neuhausen: «Behr wünschte, dass Pfader Neuhausen als Farmteam der Kadetten auftreten sollte. Seine Mannschaft war damals in der Nationalliga A, wir in der NLB. Selten gelang es uns, die Kadetten ein bisschen zu bedrängen. Nachdem wir eine Farmteamlösung abgelehnt hatten, lockten die Kadetten unsere besten Spieler und auch talentierte Junioren mit grosszügigen Spesenangeboten. Einige haben gewechselt.» Bald darauf stiegen die Pfader Neuhausen in die 1. Liga ab.
Was Behrs Antrieb war? Geld war mit Handball nicht zu verdienen, eine ernst zu nehmende Konkurrenz stellten die Pfader Neuhausen nicht dar. So bleibt die einfachste Antwort: Giorgio Behr will immer die Nummer eins sein – selbst in einer Randsportart.
Das Handballmonopol hat er inzwischen auf die ganze Schweiz ausgedehnt: fünf Meistertitel, fünf Cupsiege und vier Supercupsiege in den letzten sieben Jahren. Diesen Herbst haben die Kadetten Schaffhausen übrigens gute Chancen, die Champions-League-Achtelfinals zu erreichen. Es könnte ein grosses Fest werden für Giorgio Behr, sein Team, seine Fans, seine Zuschauer und seinen ganzen Kanton.
Für ein Interview fand Giorgio Behr keine Zeit. Seine Sekretärin erklärte, er engagiere sich derzeit sehr für den Sport und die Behinderten.