Theaterkritik.ch: Wenn nur noch der Praktikant ins Theater geht

Nr. 43 –

Ein Selbsthilfeprojekt will Theatern und freien Gruppen kontinuierlich professionelle Kritik bieten. Grosse Zeitungen wittern einen «Kulturskandal». Tatsächlich ist die Lage ernst. Aber anders.

Ab dem 3. November veröffentlicht das Portal «theaterkritik.ch» kontinuierlich Kritiken über neue Theater- und Tanzproduktionen freier Gruppen in kleinen und mittelgrossen Häusern. Für die Beiträge garantiert ein gutes Dutzend profilierter TheaterkritikerInnen. Das Projekt ist aus einer Initiative des Berufsverbands der Freien Theaterschaffenden (ACT) entstanden, das Bundesamt für Kultur unterstützt die Lancierung mit 70 000  Franken.

So soll es funktionieren: Die Häuser kaufen sich bei der Redaktion von «theaterkritik.ch» die Arbeit der KritikerInnen als Dienstleistung: Für 600 Franken werden am Tag nach der Premiere zwei Kritiken aufgeschaltet (zu je 200 Franken, 200 Franken gehen an die Redaktion) – dazu kommt ein Projektbeschrieb aus der Sicht des Veranstalters.

Für den «SonntagsBlick» ist diese Projektidee «ein kleiner Theaterskandal», er empfiehlt dem Projekt das Geschäftsmodell der Ehrenamtlichkeit, um zu beweisen, dass es um «Kunst», nicht ums «Gehalt» gehe. Für die «Weltwoche» ist das Projekt ein dreister Bruch «mit dem Journalistenkodex der Unkäuflichkeit» und ein Indiz für Staatskultur, die nicht nur die Produktionen, sondern gleich auch die Kritik dazu kaufe.

Worum geht es wirklich?

Die wegbrechende Vielfalt

Für Annette Rommel, Präsidentin des Kinder- und Jugendtheaterverbands (Astej) zum Beispiel geht es darum: «Im deutschsprachigen Raum wird Kinder- und Jugendtheater zumeist nicht ernst genommen mit dem Argument, was für Kinder sei, könne nicht Kunst sein, also seien Besprechungen überflüssig.» Als Leiterin des Vorstadttheaters Basel, die sie auch ist, stellt sie zudem fest, dass die Medien die Vielfalt der Theaterszene in keiner Weise mehr spiegeln. Berücksichtigt würden vor allem noch Highlights und die Premieren grosser Häuser. Seit Jahren breche alles andere weg: Die Gastspiele und die inhaltlich wichtigen Schwerpunktprogramme ihres Theaters zum Beispiel erschienen in der Presse gar nicht mehr.

Totgesparte Feuilletons

Auch für Barbara Anderhub, Ko-Leiterin des Kleintheaters Luzern, ist die öffentliche Berichterstattung unterdessen «in keiner Weise mehr repräsentativ». Zudem werde die Arbeit des Kleintheaters im Monopolblatt «Neue Luzerner Zeitung» selten im «Kultur»-Ressort, sondern meist in der «Stadt» abgehandelt. Dort gebe es, wenn überhaupt, «Theaterberichterstattung, nicht Theaterkritik». Sowohl die Häuser als auch die freien Gruppen seien jedoch für ihre Arbeit kontinuierlich auf ernsthafte und kompetente Kritik angewiesen. Insbesondere für unbekannte Theaterensembles oder junge Kabarettschaffende sei die Situation «verheerend».

Diese Sicht der Dinge bestätigt der Theaterkritiker Tobi Müller: «In der Schweiz gibt es schlicht keine vollamtlichen Theaterkritiker mehr.» Wenn Zeitungen bei freien Gruppen immer häufiger nur noch unwissende PraktikantInnen vorbeischickten, habe das mit Theaterkritik nichts mehr zu tun.

Die freie Theaterkritikerin Verena Stössinger weiss, dass sie privilegiert ist. Sie kann sich bei der «Basellandschaftlichen Zeitung» ausschliesslich Produktionen von Off-Theatern widmen. Allerdings beobachtet sie, dass sich rundum Kulturjournalismus immer mehr auf «Daumen-rauf-Daumen-runter-Texte mit Sternchen» beschränke, die sie als «schlicht kindisch» bezeichnet.

Theaterkritiker Charles Linsmayer – bis 2002 Feuilletonredaktor der Tageszeitung «Der Bund» – weiss genau, «dass für Theaterkritik immer weniger Platz zur Verfügung steht». Dazu komme «die elitäre Haltung» auf verschiedenen Redaktionen der Deutschschweiz, im Zusammenhang mit Theater müsse sowieso nur Basel, Zürich, allenfalls noch Luzern zur Kenntnis genommen werden.

Die Theaterkritikerin Bettina Spoerri sagt: «Auf den Kulturredaktionen der Zeitungen werden seit Jahren Stellen gestrichen und Honorare gedrückt.» Regelmässige MitarbeiterInnen würden heute bei der WOZ tendenziell besser bezahlt als beim NZZ-Feuilleton. «Fundierte, differenzierte Theaterkritik ausserhalb des Mainstreams wird in den Schweizer Medien immer seltener.»

Wes Brot ist ess, des Lied ich sing

Zweifellos: Die «Kultur»-Redaktionen der grossen Zeitungen haben das bildungsbürgerlich imprägnierte Service-public-Denken von ehedem durch markt- und kostenbewussten «Einschaltquoten»-Journalismus ersetzt. Aber widerlegt das die Kritik von «SonntagsBlick» und «Weltwoche»? Gilt denn «Wes Brot ich ess, des Lied ich sing» nicht auch im Kulturbereich? Sollen sich Theater- und Tanzveranstalter die Kritik an ihrer Arbeit einfach kaufen können?

Nein, sagt der in Berlin arbeitende Tobi Müller, der weder mit dem Projekt «theaterkritik.ch» noch mit «SonntagsBlick» oder «Weltwoche» verhängt ist. Das Projekt sei eine «Verzweiflungstat gegen die Schwundstufe der Theaterkritik», die die heutigen Printmedien in der Schweiz böten. Aber trotzdem wisse man seit 1767, dass die Kritiker von den Theatern nicht abhängig sein dürften: Damals habe Gotthold Ephraim Lessing als Angestellter des Deutschen Nationaltheaters in Hamburg Kritiken zu schreiben begonnen, die ein Stück Theatergeschichte geworden seien («Hamburgische Dramaturgie»). Aufführungskritische Kommentare hatte Lessing allerdings auf Druck der SchauspielerInnen bald einmal zu unterlassen.

Müller: «Theaterkritik braucht Gewaltentrennung.» Nach seiner Erfahrung seien Theaterleute «hypersensibel» und, wenn es um ihre Arbeit gehe, nicht selten «gegenüber Kritik blind». Er vermutet, dass freie Gruppen sich von «theaterkritik.ch» nicht mehr als ein- oder zweimal einen Verriss bieten liessen: «Dann bezahlen sie nicht mehr.» Dieses Risiko besteht. Allerdings: Eine kritische Wahrnehmung der eigenen Arbeit ist denn doch besser als gar keine.

Zweites Risiko: Werden denn die TheaterkritikerInnen durch das Honorar aus den Kassen der Veranstalter nicht korrumpiert? Bettina Spoerri lacht: «Das wird ja wohl niemand ernsthaft behaupten wollen: Was korrumpiert denn mehr, ein Honorar von 200 Franken pro Auftrag oder die feste Anstellung in der Redaktion einer grossen Zeitung?» Gerade dort steuere der Inserentendruck nicht selten auch die Kulturberichterstattung mit: «Eine Tendenz, die sich in Krisen je länger, desto deutlicher zeigt.»

Dass die Polemik gegen «theaterkritik.ch» zum Voraus derart «hämisch und aggressiv» ausgefallen sei, habe vielleicht auch damit zu tun, so Charles Linsmayer, dass die Projektgruppe ein Tabu breche, indem sie offen über Geld rede und transparent mache, wie das Geld fliesse. Tatsächlich müssten die unkäuflichen Journalisten von «SonntagsBlick» und «Weltwoche» vor allem andern schreiben, dass auch ihre Zeitungen von Inseraten abhängig sind – im einen Fall sogar von nicht klar deklarierten Kapitaleignern. Spoerri: «Gerade jene Medien, die nun Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit einfordern, sind tendenziell jene, die, ohne irgendeine kritische Frage zu stellen, vor allem noch kulturelle Grossveranstaltungen abfeiern.»

Zweiklassensystem der Kritik

Bettina Spoerri macht bei «theaterkritik.ch» als Kritikerin mit. Schon nur, dass das Projekt starte, sei ein Erfolg, «ein Signal gegen das Malaise»: «Wenn es erst das Signal gibt, begreifen die Leute vielleicht, dass tatsächlich ein Malaise besteht.»

Auch Charles Linsmayer ist dabei, weil wichtig sei, «dass man jetzt etwas macht». Einen Vorbehalt hat er: Es sei ungenügend, wenn «theaterkritik.ch» «bloss die alternative Theaterszene» abdecke. Das führe zur «Ghettoisierung», zu einem Zweiklassensystem der Kritik: Kritikkategorie A für die grossen Häuser, Kategorie B für alle anderen. Dass man die grossen Häuser bisher nicht habe interessieren können, habe zu einer «Inkongruenz des Projekts» geführt. Inhaltlich müsse «theaterkritik.ch» in Richtung von «nachtkritik.de» gehen, einem Portal, an dem Linsmayer auch mitarbeitet, weil es «eine breit gestreute Übersicht» gebe, «was passiert im Theater».

Verena Stössinger macht ebenfalls mit, und zwar wegen einer bemerkenswerten Berufserfahrung: Seit zehn Jahren arbeitet sie bei «lektorat-literatur.ch» mit, einem Portal, auf dem erfahrene Fachleute professionell verfasste Gutachten und mentoratsähnliche Projektbegleitungen für SchriftstellerInnen anbieten. Kritik als Dienstleistung auch hier, zwar weniger stark öffentlich exponiert als bei «theaterkritik.ch», aber immerhin stellt man sich auch hier der Öffentlichkeit, wenn sich die Gelegenheit bietet (zum nächsten Mal im November unter «Lektorat live» an der Messe BuchBasel). Den Vorwurf, dass ihre Arbeit durch die Bezahlung der AutorInnen korrumpiert würde, habe sie noch nie gehört.

Entsprechend ist für Stössinger Theaterkritik auch eher eine Dienstleistung als die Aufgabe, mit narzisstischer Kritikerbrillanz Applaus und Verriss zu verteilen: «Auch bei der Theaterkritik geht es darum, hinzuschauen, Rückmeldung zu geben, anzuregen und zu vermitteln – mit Neugier, Anstand, Sachkenntnis und Geduld.»

Hier trifft sie sich mit Tobi Müller: «Wenn für fundierte Theaterkritik kein Geld und keine Zeit mehr zur Verfügung stehen, dann lieber mit dem oeil extérieure den bezahlten Sparringpartner spielen als leere Kritikformeln der Pseudounabhängigkeit zu reproduzieren.» Im Vergleich zur Theaterkritik müssten solche Sparringtexte «ungeschützter, offener, dialogischer, experimenteller» daherkommen. Darüber, ob diese Textsorte noch «Theaterkritik» zu nennen sei, müsste man diskutieren.

Mal wieder ins Off-Theater!

Aber auch wenn die Theaterkritik in der Tradition Lessings und der Aufklärung mangels Zeit, Geld und Medien am Ende wäre – die Rede über das Theater ist es nicht. Heute muss Theaterkritik nicht nur Innovationen fordern und fördern, sie muss sich auch selbst erneuern. «theaterkritik.ch» bietet hierzulande als neues Medium die Chance zur kontinuierlichen Dokumentation dieses Erneuerungsprozesses.

Statt sich über «SonntagsBlick»-Zynismus («Ehrenamtlichkeit») oder «Weltwoche»-Häme («Staatskultur») aufzuhalten, ist es klüger, im Computer den Link «theaterkritik.ch» als Favoriten zu speichern, kritisch neugierig mitzulesen und – warum nicht – wieder einmal den Besuch eines Off-Theaters ins Auge zu fassen.

Darum «theaterkritik.ch»

Wenige Tage vor dem Start von «theaterkritik.ch» sucht die Initiativgruppe um die Redaktorin Lena Rittmeyer neben den fünfzehn bisher verpflichteten weitere KritikerInnen. Grund: Insbesondere vonseiten der freien Sprechtheatergruppen besteht eine grosse Nachfrage nach Kritik. Vorderhand noch zurückhaltender geben sich die Spielstätten: Bisher treten drei von ihnen – das Vorstadttheater Basel, das Kleintheater Luzern und das Schlachthaus Bern – als «Partnerhäuser» von «theaterkritik.ch» auf und bieten den freien Gruppen an, sich an den Kosten für die Kritik zu beteiligen.

Die Nachfrage zeigt, dass die mediale Transmission zwischen den Produzierenden und ihrem Publikum in Bereich der Off-Theater gerissen ist. Die gute Meldung dazu: Die Pro Helvetia investiert zwischen 2008 und 2012 knapp zwei Millionen Franken in ein Programm namens «Kulturvermittlung». Die schlechte: Auf Nachfrage wird versichert, der partielle Kollaps der medialen Kulturvermittlung sei ein anderes Thema. Es ist Zeit für subkulturelles Engagement. Es ist Zeit für «theaterkritik.ch».

Nachtrag vom 17. November 2011 : Kritik an der Kritik an der Kritik

Seit Anfang November sind auf der neuen Onlineplattform «theaterkritik.ch» Besprechungen von Stücken in Kleintheatern und Offbühnen in der Schweiz aufgeschaltet. Bislang sind Kritiken von «D’Güseltänzerin» (Sonah Theaterproduktionen), «Glücksfahrten – Wilhelm Busch und Arthur Schopenhauer» (Sogar Theater Zürich / La Cappella Bern), «Schrott & Schrott» (Volk & Glory) und «Die Bienenkönigin» (Puppentheater Roosaroos) zu lesen.

Das Projekt des Berufsverbands der Freien Theaterschaffenden ist aus der Not entstanden: Die Theaterberichterstattung in den Medien hat dramatisch an Platz und Bedeutung verloren. Viele Stücke finden in den Medien kaum oder höchstens noch als Hinweis statt.

Schon vor dem Start stiess das Projekt, dessen Lancierung vom Bundesamt für Kultur mit 70 000  Franken unterstützt wird, auf Kritik. Es war von «subventionierter Theaterkritik» die Rede. Die Art der Finanzierung ist tatsächlich nicht unproblematisch: Die Häuser kaufen sich die Arbeit der KritikerInnen direkt bei der Redaktion. Für 600 Franken werden am Tag nach der Premiere neben dem Projektbeschrieb des Veranstalters zwei Kritiken zum selben Stück aufgeschaltet (zu je 200 Franken, die restlichen 200 Franken gehen an die Redaktion).

Vielleicht lässt sich das Finanzierungsmodell noch einmal überdenken. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Theater nicht direkt und nur für Kritiken ihrer eigenen Stücke zahlen, sondern einen Jahresbeitrag leisten würden, sodass Redaktion und KritikerInnen frei entscheiden könnten, welche Stücke besprochen werden. Das wäre auch im Sinn einer Solidarität unter den Theatern und Gruppen.

Adrian Riklin