Bundesratswahl 2011: Drei Szenarien, eine Prognose – und das Dilemma der SVP
In einem Gastbeitrag für die WOZ schreibt der Publizist Kenneth Angst, warum die SVP bei den Bundesratswahlen am 14. Dezember wohl keinen zweiten Sitz erhalten wird.
Nach den jüngsten Parlamentswahlen sind die Chancen und Wahrscheinlichkeiten für politische Mitte-links-Mehrheiten in Zukunft deutlich grösser als in den vergangenen vier Jahren. Denn die per Saldo deutlich gestärkte «gutbürgerliche» Mitte unter Führung der Zentrumspartei CVP wird ihre kompromissorientierte und mehrheitsbildende Schlüsselrolle noch selbstbewusster und stärker wahrnehmen können als bisher.
Was heisst das nun für die kommenden Bundesratswahlen? Auch unter Würdigung der Tatsache, dass – mal abgesehen von der blossen Arithmetik – letztlich immer und zu Recht die auf der politkulturellen und staatsbürgerlichen Ebene geführte Auseinandersetzung um die jeweils plausibelste Ausdeutung der helvetischen Regierungskonkordanz ausschlaggebend ist? Drei Szenarien sind möglich, die ich im Folgenden skizzieren möchte.
Erstes Szenario
Rückkehr zur alten «Zauberformel» bis 2003 (2 SP, 2 SVP, 2 FDP, 1 CVP), postuliert von der SVP, nibelungentreu sekundiert von der FDP – in der sehr waghalsigen Annahme, dass die SVP ihren zweiten Sitz am Schluss nicht doch noch auch auf FDP-Kosten anstrebt. Dieses vom politischen Rechtsblock unter gebetsmühlenartiger Anrufung der reinen Arithmetik postulierte Konkordanzmodell argumentiert letztlich ganz und gar unpolitisch. Erstens vollkommen losgelöst von den realen Verschiebungen zulasten der Rechtsparteien in den jüngsten Parlamentswahlen, wonach SVP und FDP mit vier Bundesräten völlig übervertreten wären. Zweitens völlig unabhängig von der Frage, ob die SVP willens und fähig ist, geeignete, also team- und mehrheitsfähige BundesratskandidatInnen vorzuschlagen – was bis dato nicht der Fall ist.
Vor allem aber wird drittens übersehen oder bewusst verdrängt, dass die SVP und ihr freisinniger Bündnis- und Juniorpartner ja selbst mit der von ihr angerufenen Konkordanz politisch gebrochen haben: 2003 durch die unter dem Titel «Blocher oder keiner» erfolgreich durchgepaukte Abwahl einer valablen CVP-Bundesrätin (Ruth Metzler) allein aufgrund veränderter Wähleranteile. Und 2007, als die SVP unter krasser Missachtung der parlamentarischen Wahlfreiheit die anstelle von Christoph Blocher gewählte Eveline Widmer-Schlumpf mitsamt ihrer Kantonalpartei ausgeschlossen und damit freiwillig auf den zweiten Sitz verzichtet hat.
Warum soll die bürgerliche Mitte nur vier Jahre später Bundesrätin Widmer-Schlumpf, die ihre Aufgaben ausgezeichnet wahrnimmt, schon wieder abwählen, nachdem vor erst vier Jahren zwei SVP-Mitglieder inthronisiert wurden? Und schliesslich spricht viertens ebenfalls gegen dieses Szenario, dass der geschlossene Rechtsblock, ergänzt vielleicht durch vereinzelte Grünliberale und Katholisch-Konservative, noch keine Mehrheit im Parlament abgibt.
Zweites Szenario
Wie Szenario eins, also auch mit einem zweiten SVP-Bundesrat, aber im Unterschied dazu durch Abwahl eines freisinnigen Bundesrats. Für dieses Szenario – eine Art vorgezogene Installierung einer neuen, wieder dauerhafteren Regierungsformel (2 SVP, 2 SP, 1 FDP, 1 CVP, 1 VertreterIn der neuen Mitte) – spricht die aktuelle Übervertretung des Freisinns mit zwei Bundesräten, der mit der Halbierung seiner Regierungsmacht den verdienten Preis für seine 2003 angetretene Flucht aus der politischen Mitte bezahlen müsste, von der er selbst jetzt noch deklariertermassen nicht abrücken will.
Gegen ein solches Szenario aber sprechen die gleichen Erwägungen wie jene gegen Szenario eins sowie der Umstand, dass die SVP damit ihren einzigen politischen Bündnispartner endgültig und für immer vergraulen würde und also im totalen Alleingang sowohl im Parlament wie an der Urne einen noch schwereren Stand hätte als bisher schon – zwei Regierungssitze hin oder her.
Drittes Szenario
Aus alledem ergibt sich, dass das dritte Szenario, nämlich die Fortschreibung der 2007 etablierten parteipolitischen Zusammensetzung unserer Landesregierung, am plausibelsten und wahrscheinlichsten ist. Insbesondere spricht für dieses Szenario: dass eine nochmalige, mit dem Konkordanzgedanken unvereinbare Abwahl einer amtierenden und kompetenten Bundesrätin vermieden werden kann; dass die parlamentarischen Wahlsiegerinnen, also die neuen Mitteparteien BDP und GLP, mit achtzehn zusätzlichen Nationalratssitzen und einem gemeinsamen Wähleranteil von immerhin 10,4 Prozent jetzt schon mit einem Regierungsmitglied politisch repräsentiert sind; dass so das mit den Parlamentswahlen politisch gesetzte Zeichen – von der Polarisierung zur Harmonisierung – auch auf Bundesratsebene gespiegelt wird; dass politische Kontinuität und Stabilität wenigstens auf Regierungsstufe gewahrt werden; und schliesslich, dass für dieses Szenario eine numerisch solide Mitte-links-Mehrheit bereit steht – Fraktionsdisziplin vorausgesetzt.
Für einen zweiten Bundesratssitz müsste die SVP den Rücktritt von Eveline Widmer-Schlumpf, eines FDP-Bundesrats oder aber die nächste Wahlniederlage des Freisinns abwarten, die so sicher kommt wie das Amen in der Kirche.
Kenneth Angst (57), früher stellvertretender Chefredaktor der NZZ und persönlicher Berater von Bundesrat Kaspar Villiger, arbeitet heute als Publizist und Berater für Public & Political Affairs. Als einer der Ersten begründete und prognostizierte er in der WOZ im November 2007 die Abwahl von Christoph Blocher.