Forschung: Die plötzliche Angst, kompromittiert zu werden

Nr. 44 –

Wer entscheidet, was geforscht wird? Eine Podiumsdiskussion stellte die Machtfrage, doch die Mehrheit der TeilnehmerInnen rückte ethische Fragen in den Mittelpunkt. Was passiert, wenn Politik und Wirtschaft Milliardenbeträge in Aussicht stellen für Forschung, die ihren Interessen dient?

Mit grossen Versprechungen ist es so eine Sache. Im Oktober 2005 erfolgte der Startschuss für den nationalen Forschungsschwerpunkt «Sesam»: 3000 Kinder wollte man vom Mutterbauch bis zur Volljährigkeit wissenschaftlich begleiten, um herauszufinden, wie psychische Erkrankungen entstehen. Den potenziellen TeilnehmerInnen (respektive ihren Angehörigen) versprach man grössere psychische Gesundheit. Von der «Pille gegen Depression» war die Rede. Keine drei Jahre später wurde «Sesam» abgeblasen. Das Projekt hatte eine Reihe ethischer Fragen aufgeworfen.

Dass der Name dieses gescheiterten Schweizer Forschungsprojekts letzte Woche an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Forschungskartell» an der ETH Hönggerberg in Zürich erneut aufs Tapet kam, ist kein Zufall. Was die ethische Dimension angeht, weist «Sesam» grosse Parallelen zur sogenannten Flagship-Initiative auf, mit der sich die EU innert zehn Jahren an die Weltspitze der Informations- und Kommunikationstechnologie katapultieren will und die sich immer wieder ins Zentrum der Podiumsdiskussion drängte. Eine Milliarde Euro soll jenes Forschungsprojekt gewinnen, das die grössten Erfolgschancen verspricht (siehe WOZ Nr. 21/11). Die Initiative und das Verhalten der sechs Finalisten rückten erneut ethische Fragen in den Fokus. Dieter Imboden, Präsident des Schweizer Forschungsrats, machte gleich zu Beginn klar: «Was mich am meisten umtreibt, ist die Sorge, in unethische Forschung verwickelt zu werden.»

Unethische Forschung?

Olaf Kübler, ehemaliger Präsident der ETH Zürich, doppelte nach: «Wo es um Big Science geht, muss man besonders genau hinschauen, denn dort wird Lobbying im grossen Stil betrieben.» Tatsächlich haben die verbliebenen sechs Bewerber um die Flagship-Milliarde ein Budget eigens für die öffentlichkeitswirksame Aufbereitung ihrer Projekte erhalten. So würden ForscherInnen dazu getrieben, Versprechungen in die Welt zu setzen, die völlig überrissene Erwartungen erzeugten, ja, mitunter könnten so ganze Forschungsgebiete diskreditiert werden, warnte Kübler. «Es ist billig, Charisma aus Verheissungen zu holen. Da wird irgendwann eine ethische Grenze überschritten.»

Als Beispiel nannte er das Human Brain Project, das Henry Markram von der ETH Lausanne leitet und für das er und sein Team im Rennen um die EU-Milliarde mit Verve die Werbetrommel rühren. Nichts weniger als das menschliche Gehirn will Markram mithilfe eines Supercomputers simulieren. Dadurch sollen Erkrankungen wie Alzheimer heilbar gemacht werden. «Ein Projekt, das solche Verheissungen macht, sollte man aus rein ethischen Gründen ablehnen», so Kübler.

Dass in der Hirnforschung enormer Nachholbedarf besteht, bestritt niemand auf dem Podium. «Wir sollten bescheidener sein», warnte Imboden allerdings und verwies auf die Krebsforschung, die seit den fünfziger Jahren verspricht, man stehe unmittelbar vor einem Durchbruch, dank dem Krebs heilbar werde. Kübler genügt ein solcher Appell nicht. «Wir müssen ethisch präventiv tätig werden», forderte er. «Ich bleibe dabei: Beim Human Brain Project ist eine ethische Grenze überschritten worden, die sanktioniert werden sollte.»

Sanktionen?

Konkret wünsche er sich von der EU-Kommission, die über die Flagship-Projekte entscheidet, ein Veto, sagt Kübler im Anschluss an die Veranstaltung. Er selbst werde sich als Mitglied des Deutschen Wissenschaftsrats auf jeden Fall dafür einsetzen. «Stellen Sie sich vor, ein solches Projekt kommt tatsächlich durch: Welche Nachricht sendet man damit in die Forschungsgemeinschaft?» Wer habe dann noch die Autorität, angehende ForscherInnen im Labor und anderswo darauf zu verpflichten, ihre Resultate hin und her zu wenden und kritisch zu hinterfragen? «Der nächste Schritt wird doch der sein, dass man beginnt, seine Forschungsresultate entsprechend den gemachten Verheissungen zu beschönigen.»

Selbst Reto Naef, Leiter Wissenschaftliche Angelegenheiten und Spezialprojekte bei Novartis in Basel und selbst am Human Brain Project beteiligt, ist überzeugt: «Ethik und Forschung dürfen nicht getrennt werden – das wäre gefährlich.» Er setzte sein Argument in Bezug zum Datenschutz, der schon im Fall von «Sesam» ein umstrittenes Thema war. Wie sicher sind persönliche Gesundheitsdaten in einer riesigen genetischen Datenbank vor dem Zugriff von beispielsweise Vorgesetzten oder Versicherungen?

In den USA werde der Datenschutz viel liberaler gehandhabt als in der Schweiz, so Reto Naef. Ein Argument, mit dem er auch den Forschungsplatz Schweiz gegen den Entscheid der Novartis-Konzernleitung verteidigt: In der vergangenen Woche hat der Basler Pharmakonzern bekanntgegeben, dass er in der Schweiz 270 Forschungsarbeitsplätze abbaut und ganze Forschungsbereiche schliessen respektive in die USA verlagern wird (vgl. Artikel auf Seite 3).

In den Vereinigten Staaten seien die gesetzlichen Regulierungen namentlich für die Pharmaindustrie forschungsfreundlicher, berichtete am 30. Oktober auch die «NZZ am Sonntag». Besonders im Bereich der klinischen Forschung seien die Hürden, um neue Medikamente an Menschen auszutesten, geringer. «Ethische Fragen haben weniger Gewicht», so das Sonntagsblatt.

Beginnt in der Schweiz gerade eine neue forschungsethische Debatte?