Libyen: Regierungen am Laufband

Nr. 52 –

Der libysche Staat steht kurz vor dem Kollaps, und die Terrormiliz Islamischer Staat gewinnt rapide an Boden. Dennoch gibt es Opposition gegen eine von der Uno vermittelte Einheitsregierung.

Gegen die von der Uno vermittelte Regierung: Frauendemonstration in Misrata letzte Woche.

Aufrecht stehen sie vor dem zerschossenen Stadttheater in der Hafenstadt Misrata und singen, die Hand auf der linken Brust, die Hymne ihres Landes: «Überlebe durch alle Widrigkeiten. Wir sind deine Garanten.» Ihr nordafrikanisches erdölreiches Heimatland hat einen solchen Zuspruch bitter nötig: Libyen steckt in der tiefsten Krise seit dem Sturz des Langzeitdiktators Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011. Das Lied, das ein paar Hundert DemonstrantInnen an jenem Freitagnachmittag Mitte Dezember intonieren, ist ein Kind der Revolution: Der Nationale Übergangsrat führte nach dem Putsch die Nationalhymne und die Flagge aus der Zeit des libyschen Königreichs (1951–1969) wieder ein.

Aber sind die BürgerInnen wirklich die «Garanten» des Landes, wie die paar Hundert Demonstrierenden von Misrata in ihrem Gesang behaupten? Vier Jahre nach Gaddafis Sturz scheint die Lage jedenfalls verzweifelter und vertrackter denn je. Auch viele LibyerInnen räumen dieser Tage ein, dass sie nicht mehr durchblicken. Sie haben zu viele Parlamente und Regierungen, aber auch zu viele Friedensinitiativen, die wieder eine neue «Einheitsregierung» für die unmittelbare Zukunft versprechen: Welche Verhandlungsrunde in welcher ausländischen Stadt (die schlechte Sicherheitslage verbietet solche Treffen in der Heimat) zu welchem Friedensprozess gehört, das können die wenigsten noch auseinanderhalten.

«Einheitsregierungen»

Zur Demonstration vor dem Theater von Misrata haben einige Frauen Transparente mit Botschaften in englischer Sprache angefertigt: «No 4 dictatorship and guardianship government!» Weil nur wenige LibyerInnen Englisch verstehen, sind die AdressatInnen klar: Die Demonstrantinnen hoffen auf das Interesse westlicher Medien. Najad al-Kaiba*, 52 Jahre alt und bis auf einen Sehschlitz in schwarze Stoffe gehüllt, sagt: «Wir wenden uns an die Uno, die Europäische Union und die gesamte internationale Gemeinschaft: Sie müssen den Willen des libyschen Volkes beachten und dessen Entscheidungen respektieren!»

Nachdem die Uno mehr als ein Jahr lang versucht hat, ein libysches Friedensabkommen zu vermitteln, unterzeichneten am 17. Dezember VertreterInnen mehrerer libyscher Städte und Institutionen im marokkanischen Skhirat das Abkommen für eine «Einheitsregierung». Der künftige Premierminister, der 55-jährige Geschäftsmann Fais al-Faradsch, soll sie bis Anfang Februar bilden. Am Ende einer zweijährigen Übergangsphase sind Parlamentswahlen geplant. Dass die LibyerInnen zuvor während vier Jahren ohne die Vereinten Nationen keine Einheitsregierung bilden konnten, davon wollen die Demonstrierenden in Misrata nichts wissen.

Wie gross die Opposition gegen ein von der Uno vermitteltes Abkommen ist, lässt sich kaum ausmachen. Ebenso unklar ist, ob sich diesmal die «Einheitsregierung» durchsetzen kann. Diesem Ziel wirken nicht nur die unterschiedlichen bewaffneten Gruppierungen entgegen, deren Zahl auf landesweit tausend geschätzt wird. Auch konkurrierende politische Gebilde und Einzelpersonen, die von verschiedenen Pfründen und Fressnäpfen profitieren, stellen sich einer einheitlichen Regierung in den Weg.

Uno-Kabinett untergraben

Seit Oktober 2014 hat das Land zwei rivalisierende Parlamente: eins im östlichen Tobruk und eins in der Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes. Die zum Teil aus islamistischen Kräften bestehende Regierung in Tripolis wird von Katar und der Türkei unterstützt. Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate setzen auf die Regierung in Tobruk. Diese galt lange als international anerkannt.

Die Mandate beider Parlamente sind abgelaufen, doch sie klammern sich an die Macht. Nachdem schon rund ein Jahr lang unter Uno-Aufsicht im Ausland verhandelt wurde, haben sich die beiden zerstrittenen Institutionen aus Tobruk und Tripolis parallel dazu Anfang Dezember überraschend zu Gesprächen getroffen. Nuri Abu Sahmain, der Chef des Nationalkongresses in Tripolis, und der Sprecher des Parlaments in Tobruk, Aguila Saleh, priesen bei ihrem Treffen in Tunesien wenige Tage vor dem von der Uno vermittelten Ergebnis ihrerseits einen eigenen Fahrplan für eine Einheitsregierung an. Im Bemühen, den Einfluss des künftigen, von der Uno vermittelten Kabinetts zu untergraben, kündigten sie weitere libysch-libysche Gespräche an.

Seitdem rätseln BürgerInnen, wie viele «Einheitsregierungen» ihr Land demnächst haben wird. Zwei, wenn sich die Parlamente in Tobruk und Tripolis tatsächlich zusammenraufen, um ihre Macht nicht an die neue «Uno-Regierung» zu verlieren (denn so wird das angekündigte neue Gebilde in Libyen genannt – und wohl auch empfunden)? Oder drei, wenn sich die Streithähne in Tripolis und Tobruk doch nicht einigen können? Denn auch diese beiden Parlamente sind gespalten: Einige ihrer Mitglieder haben an den Uno-Verhandlungen teilgenommen, andere sind für die libysch-libysche Lösung.

Sicher ist derzeit nur, dass Libyen keine Zeit mehr verlieren darf. Gemessen am politischen Chaos und der Vielzahl der militärischen Konflikte funktioniert das Land bis jetzt noch überraschend gut. Justiz und Polizei arbeiten nach wie vor, an etlichen Universitäten und Schulen geht der Lehrbetrieb weiter, und das staatliche Stahlwerk von Misrata produziert noch, wenn auch mit verringerter Kapazität. Die rund 6000 ArbeiterInnen bekommen ebenso regelmässig ihren Lohn wie Hunderte bewaffnete Gruppen in Ost und West ihren Sold – selbst wenn sie zu den GegnerInnen der Regierung in Tripolis zählen.

Die Verhältnisse in Libyen sind also (noch) nicht so dramatisch, wie sie angesichts des zerfallenden Staates sein könnten. Einerseits sind zwar bereits etliche Milizen und Brigaden zu kriminellen Banden geworden, die ihr Geld mit Entführungen und Raubzügen machen. Andererseits halten bislang viele bewaffnete Gruppen an einem militärischen Selbstverständnis fest und geben sich mit dem Sold zufrieden, den sie aus der Hauptstadt erhalten.

Wirtschaftlich bald am Ende

Dass Gewalt und Chaos in Libyen noch nicht völlig entfesselt sind, liegt an den drei wichtigsten staatlichen Institutionen: der Zentralbank CBL (Central Bank of Libya), der nationalen Ölgesellschaft NOC (National Oil Company) und der libyschen Investitionsbehörde LIA (Libyan Investment Authority). Weil diese politisch neutral blieben, kann der im Grunde nicht mehr existierende Staat seine Kernaufgaben in beiden Landesteilen weiterhin erfüllen. Aber das Arrangement ist kaum von Dauer, denn seit Oktober 2014 ringen Tobruk und Tripolis um diese drei «cash cows» – die allerdings nicht mehr so wertvoll sind wie zuvor. Die Folgen von vier Jahren Bürgerkrieg, politischem Chaos und Korruption sind nicht länger zu übersehen: Libyen ist wirtschaftlich fast am Ende.

Die Einnahmen aus der Erdölproduktion sind drastisch zusammengebrochen. Zudem haben die staatlichen Institutionen durch Diebstahl, Korruption und Verschwendung in den letzten drei Jahren Milliarden von US-Dollars verloren. 2013 wurden die Währungsreserven noch auf 110 Milliarden geschätzt. Zwei Jahre später ist davon nur noch rund die Hälfte übrig. Der Reichtum Libyens, der das Land bislang noch zusammenhielt, schwindet rapide, wenn dieser Trend anhält. Vermutlich bleibt dem Land dann nur noch die Hoffnung auf den Wahrheitsgehalt seiner Hymne: dass seine BürgerInnen am Ende für ihre Heimat und nicht für deren Zerstörung kämpfen.

* Name geändert.

Bettina Rühl ist freie Afrikakorrespondentin. Sie lebt in Nairobi.

Versiegende Erdölgelder

Zur Zeit des Aufstands gegen Gaddafi Anfang 2011 stammten 96 Prozent der Staatseinnahmen aus dem Export von Erdöl. Nun versiegt dieser Geldfluss zunehmend: Der Weltmarktpreis für Erdöl ist drastisch gesunken, und Milizen haben die Kontrolle über etliche Ölfelder, Pipelines und Exportterminals erobert. Vielerorts blockieren sie die Produktion, damit niemand anderer vom Gewinn profitiert.

Derzeit exportiert Libyen deshalb höchstens 400 000 Barrel am Tag – Anfang 2011 waren es noch viermal mehr. Auch die Terrormiliz Islamischer Staat zerstört Produktionsanlagen, um allen anderen den Geldhahn abzudrehen. Womöglich wird die Miliz künftig versuchen, ihren Krieg auch mit libyschem Erdöl zu finanzieren.