Über St. Gallen hinaus: Und siehe: Es ist möglich!

Nr. 48 –

Die Postkarten von St. Galler KünstlerInnen, darunter dem als Sprengmeister bekannten Roman Signer, waren bereits vor dem ersten Wahlgang aufgetaucht. Sie riefen dazu auf, Paul Rechsteiner in den Ständerat zu wählen. Ende Oktober erzielte der Chef des Gewerkschaftsbunds einen Achtungserfolg. Für die zweite Runde liessen die KünstlerInnen dann einen neuen, knappen Satz auf die Karten drucken: «Es ist möglich!»

Am letzten Sonntag wurden im bürgerlichen St. Gallen tatsächlich die herrschenden Verhältnisse gesprengt: Der «Tages-Anzeiger» spricht von einer «Sternstunde der Linken», die NZZ von einem «historischen Wahlsieg für die SP», dies, nachdem die Medien Rechsteiner lange nur als Aussenseiter gehandelt hatten.

Die Wahl von Paul Rechsteiner in den Ständerat ist über St. Gallen hinaus eine Sensation, in doppelter Hinsicht: Zum einen hat er keinen Geringeren als den SVP-Präsidenten Toni Brunner geschlagen. Insgesamt zehn Sitze haben die Rechtspopulisten bei diesen Wahlen verloren. Das ist ein Einschnitt, weil die ständige Addition von WählerInnenprozenten und der damit legitimierte «Volkswille», also der Sieg und der Machtrausch, ein Grundelement des Rechtspopulismus sind. Wie die Erfahrungen von Niederlage, Schwäche und Verletzlichkeit wichtige Momente sind im linken Denken. Emanzipation und Alternativen, sprich der Mut, ergeben sich daraus.

Gerade Paul Rechsteiner, der als Anwalt den Flüchtlingshelfer Paul Grüninger rehabilitierte oder vor dem Bundesgericht die Einhaltung der Grundrechte bei Einbürgerungen durchsetzte, steht für eine solche Verteidigung des Fortschritts.

Zweitens und zum Schluss des Wahljahrs richtungsweisend: Rechsteiner hat einen neuen linken Wahlkampf geführt, den sich die PolitologInnen hierzulande wohl nicht einmal vorstellen konnten. «Mehrheitsfähig» bedeutet für ihn gerade nicht, sich bei der Mitte anzubiedern. Sondern die Interessen der breiten Bevölkerung zu vertreten. Sein Slogan hiess: «Gute Löhne, gute Renten und Menschenrechte für alle!» In St. Gallen entstand in den letzten Monaten eine Bewegung: Gewerkschaften, Kulturschaffende, Frauen, Kirchenleute und Junge engagierten sich für den Aufbruch.

Es ist also möglich, mit einem linken Programm zu gewinnen. In der Westschweiz zeigen das die SP-Bundesratskandidaten Pierre-Yves Maillard aus der Waadt und Alain Berset aus Freiburg. Ihre Kantonalparteien hatten bei den Nationalratswahlen mit einer angriffigen Politik Erfolg. Oder wer es ein wenig offener mag: Mit ihren neuen, unterschiedlichen StänderätInnen wie Pascale Bruderer, Paul Rechsteiner und Hans Stöckli erscheint die SP als einzige Volkspartei.

Ein Hinweis auf alle Fälle für die Grünen, ihre Zukunft nicht mit Politratings zu ermitteln, sondern im Gespräch mit den Leuten zu suchen.

Das Schlussergebnis der Wahlen 2011: eine Verschiebung vom Rechtsblock von SVP und FDP hin zu einer konstruktiveren, ökologischeren Mitte. Die Linke kann sich halten, wobei sich die soziale Frage akzentuiert. Gerade der Ständerat könnte künftig eine positivere Rolle spielen. Ein Beispiel im Rückblick: In dieser Zusammensetzung wäre eine Parlamentarische Untersuchungskommission zum UBS-Desaster denkbar gewesen. Das knappe Verbot von AKW-Neubauten und die Energiewende erhalten eine stabilere Mehrheit. Aus dem Ständerat, bisher vor allem eine Ansammlung von Wirtschaftsanwälten und Gesundheitslobbyisten, dürften weniger Abbruchvorlagen für die Sozialwerke kommen.

Das ist noch keine politische Wende, es ist bestenfalls ein Anfang. Nach der Wahl schrieb Paul Rechsteiner in seinem Blog: «St. Gallen könnte überall sein.»

PS: Zum Bundesrat: Wie die WOZ verschiedentlich schrieb, kommen FDP und SVP aufgrund ihrer Mandate zusammen auf drei Bundesräte. Der Linken bleibt also die Wahl zwischen zwei Chefs: Johann Schneider-Ammann (Industrie) und Bruno Zuppiger 
(Gewerbe).