Occupy weltweit: Ohne Wissen und Debatten gehts nicht
Der Occupy-Bewegung wird immer wieder der Vorwurf gemacht, sie agiere naiv und unpolitisch. Tatsächlich scheint das theoretische Wissen früherer Bewegungen verschüttet zu sein – was die Entwicklung von Alternativen zum System erschwert.
Die Plätze bleiben gefüllt: In Ägypten kehren die Unzufriedenen auf den Tahrir-Platz zurück, in Spanien sorgen Zwangsräumungen von Eigentumswohnungen fast täglich für Proteste, und während die Demonstrationswelle in Griechenland weitergeht, fängt sie in Italien gerade erst an. Parallel dazu drängen StudentInnenbewegungen in den öffentlichen Raum. Nachdem der landesweite Hochschulstreik in Chile dem dortigen Präsidenten Sebastián Piñera einen dramatischen Popularitätsverfall bescherte, knickte Mitte November sein kolumbianischer Amtskollege Juan Manuel Santos überraschend schnell ein. Nach sechs Wochen Streik an den öffentlichen Universitäten Kolumbiens zog die Santos-Regierung die geplante Bildungsreform zurück, die die Kommerzialisierung der Hochschulen weiter vorangetrieben hätte.
Aus dieser Perspektive erscheint die US-amerikanische Occupy-Bewegung nur als Verlängerung einer breiteren internationalen Protestwelle. Man darf wohl von einer Bewegung sprechen: Auch wenn sich die Proteste an verschiedenen Fragen entzündet haben und in völlig unterschiedlichen Kontexten stattfinden, sind Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen. Überall geht es um die Verteilung des Reichtums, spielen horizontale Organisationsformen und digitale Medien eine wichtige Rolle, wirken Parteien und Gewerkschaften eher als Bremsklötze denn als Katalysatoren. Und überall scheinen Massendemonstrationen und militante Proteste hinter – mehr oder weniger – originellen Performances im öffentlichen Raum zurückzutreten.
In Kolumbien kippte die Protestbewegung die öffentliche Meinung mit «Kiss-ins» und einer dezentralen Blockade der Hauptstadt. In Madrid verwandelte die Bewegung 15M die Puerta del Sol in einen grossen Versammlungsraum und hielt der «Demokratie geringer Intensität», wie der portugiesische Intellektuelle Boaventura de Sousa Santos die bürgerlichen Verhältnisse spöttisch beschreibt, den Spiegel vor. Und auch die US-amerikanische Occupy-Bewegung schliesslich kommt uneindeutig daher. Ihre Zusammenkünfte wirken wie ein naives Theaterstück, allerdings mit hochpolitischem Inhalt, denn das unbefangene Reden über Politik führt vor, dass in der bürgerlichen Demokratie nur noch über Verwaltung und ihr Personal, nicht aber über Inhalte der Politik gesprochen wird.
Zum zweiten Mal erfunden
Intellektuelle und JournalistInnen haben den Protestierenden in den vergangenen Wochen immer wieder den Vorwurf gemacht, sie argumentierten unpolitisch und naiv. Und tatsächlich bleibt die Kritik oft erstaunlich oberflächlich. Man stimmt ein in das allgemeine Klagen über die «Gier» (wahlweise von Bankern, Spekulantinnen oder Politikern), ohne zu reflektieren, dass diese eher Ausdruck als Ursache der Verhältnisse sein könnte – denn wie soll sich der Einzelne schon verhalten, wenn man den Markt, wie Michel Foucault geschrieben hat, «Wahrheit sprechen» lässt und die Konkurrenz systemisch entregelt? Man ruft nach einer staatlichen Re-Regulierung der Finanzmärkte, ohne darüber nachzudenken, dass der Kapitalismus – wie der Fall China beweist – auch trotz einer Finanzregulation extreme soziale Gegensätze hervorbringt. Man will den wahnsinnigen Wachstumswettlauf durch Konsumverzicht stoppen und tut so, als hätten Wachstumszwänge und Ressourcenverbrauch gar nichts mit Kapitalakkumulation zu tun.
Es ist, als seien die neuen Protestbewegungen geschichtslos zur Welt gekommen. Das theoretische Wissen früherer Bewegungen scheint verschüttet, alte Aktionsformen werden zum zweiten Mal neu erfunden. Denn auch wenn Facebook und Twitter als Mittel, sich auszutauschen und zu verabreden, neu sind, so haben Performances im öffentlichen Raum doch eine lange Tradition. Vom Situationismus beeinflusst versuchten schon die StudentInnen- und Jugendbewegungen der sechziger Jahre, mit Teach-ins, Die-ins oder Puddingbomben die Alltagsordnung zu unterlaufen. Und schon damals zeigte sich – was von vielen ProtagonistInnen allerdings erst später erkannt wurde –, dass derartige Aktionen die herrschende Meinungshegemonie wirkungsvoller und bleibender unterminieren können als «machtvolle Demonstrationen» oder der Aufbau revolutionärer Parteien.
Trotzdem hat die massenmediale Schelte der Protestbewegungen einen zynischen Zug. Denn öffentlich wahrgenommen werden 15M, Occupy Wall Street oder die diversen Bildungsstreiks ja nur deshalb, weil sie sich historisch und inhaltlich nicht eindeutig verorten lassen. Es ist ihre Unbestimmtheit, die es ihnen erlaubt, Risse in den neoliberalen Meinungskonsens zu treiben. Dieselben Medien, die heute über die Naivität der Protestierenden spotten, würden einer politischeren, klarer positionierten Bewegung Radikalität vorwerfen und ihr jeden Raum verweigern.
Revolten allein reichen nicht
Wie kann es nun weitergehen? Der Arabische Frühling scheint die alte These zu bestätigen, dass Revolten allein keine Emanzipation nach sich ziehen. In Tunesien haben Islamisten die Wahl gewonnen, in Ägypten zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, und dank des Libyenkriegs hat «der Westen» auch die Deutungshoheit über die Aufstände zurückerlangt. Repräsentierten zuvor die Versammlungen der Vielen den Ruf nach Freiheit und Demokratie, so wird diese Rolle jetzt wieder von westlichen Staaten inklusive ihrer Militärapparate in Anspruch genommen. Was bleibt, sind Modernisierungen, die noch hinter den früheren Zustand zurückzufallen drohen.
Die uralte Frage, wie aus Rebellionen, die wissen, was sie nicht wollen, gesellschaftliche Emanzipationsprozesse werden können, die etwas Neues schaffen, stellt sich offensichtlich auch im 21. Jahrhundert. Vor hundert Jahren gab es in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung – die nicht den einzigen, aber einen äusserst wichtigen Emanzipationsansatz des vergangenen Jahrhunderts darstellte – zu diesem Problem drei Positionen: Die MehrheitssozialdemokratInnen wollten den Impuls des Widerstands nutzen, um einen Frieden mit den Herrschenden zu schliessen. Man assimilierte sich und gab umfassende Befreiungsvorstellungen zugunsten von beschränkten politischen und sozialen Reformen auf. Der Leninismus als zweite grosse Strömung des 20. Jahrhunderts erklärte sich zum alleinigen Repräsentanten des Emanzipationsanliegens. Befreiung wurde zum Herrschafts- und Erziehungsprojekt einer führenden Gruppe umgedichtet, die bereit war, die neue revolutionäre Ordnung auch mit Mitteln des Terrors zu installieren.
Autonomie der Bewegungen
Doch schon damals gab es noch eine dritte Position. Rosa Luxemburg bestand darauf, dass Emanzipation nie von Minderheiten gestaltet werden kann. Protestbewegungen und Widerstand mass sie grosse Bedeutung bei, weil sie der Ansicht war, dass nur in ihnen die kollektiven Lern- und Bildungsprozesse möglich sind, die Menschen aus der Fremdherrschaft in die Selbstbestimmung führen können. Anders als der Leninismus, der die Wahrheit zu kennen und durchsetzen zu müssen glaubte, gestand Luxemburg der politisch organisierten Linken demzufolge auch keine Führungsrolle zu. Ihr zufolge sollten Linke in Bewegungen inhaltliche Vorschläge unterbreiten und Erfahrungen zur Verfügung stellen, aber den Bewegungen nicht Rhythmus und Ziele aufzwingen dürfen.
Heute gehen einem für Luxemburg zentrale Begriffe wie «Aufklärung» und «Bewusstseinsbildung» aus gutem Grund nicht mehr so leicht über die Lippen. Und doch könnte es in den aktuellen Bewegungen um etwas Ähnliches gehen. Die Proteste brauchen theoretisches Wissen, strategische Debatten, sie brauchen klarere Vorstellungen davon, was die globale kapitalistische Gesellschaft ausmacht und wie Alternativen aussehen könnten.
Am Neuanfang stehen alte Probleme.