«9/11: Was there an Alternative?»: Wie die USA Bin Ladens Wünschen nachkamen

Nr. 51 –

Noam Chomsky hat ein neues Buch vorgelegt. Und wieder schafft er es, sein Faktenwissen in einen verständlichen Gesamtzusammenhang zu stellen.

Man kennt ihn in der linken Szene. Er hat unzählige Bücher und Artikel veröffentlicht (auch in der WOZ und in «Le Monde diplomatique»), er gibt viele Interviews und wird auch längst von den Mainstreammedien wahrgenommen. Denn der 83-jährige Noam Chomsky gilt mittlerweile als das wichtigste links-intellektuelle Aushängeschild der USA, deren Politik er seit Jahrzehnten mit grosser Schärfe kritisiert. Aber er ist auch ein Vervielfältigungskünstler: Viele seiner Bücher erscheinen immer wieder in aktualisierten Neuauflagen – und auch der vorliegende Band über «9/11», den 11. September 2001, ist vor neun Jahren schon mal erschienen, wurde aber nun um einen langen Essay ergänzt, der sich mit der Ermordung von Usama Bin Laden durch ein US-Spezialkommando im Mai 2011 beschäftigt.

Den US-Kriegen «gegen den Terror» fallen täglich mehrere Dutzend ZivilistInnen zum Opfer, hält Chomsky in der Einleitung zu diesem Beitrag fest, den er im Juni 2011 geschrieben hat. Es sei offensichtlich, dass es weder der Regierung von George Bush noch der von Barack Obama auch nur in Ansätzen gelungen ist, ihre erklärten Ziele zu erreichen. Der Blutzoll der Zivilbevölkerung in den Kriegen gegen Afghanistan und Irak seit 2001 ist immens: Chomsky spricht von mehreren Hunderttausend Opfern. Die USA seien mithin den Wünschen Bin Ladens nachgekommen – indem sie konsequent alle Einwände (etwa gegen die Irakinvasion) und sämtliche Vermittlungsbemühungen anderer Staaten ignorierten. Und so kommt es, dass die USA aussenpolitisch isolierter denn je sind, dass ihre Kriege für die Zivilbevölkerung eine humanitäre Katastrophe bedeuten und dass diese aussenpolitischen Interventionen in den USA selbst ein finanzielles Desaster anrichten.

Obama in der Tradition

Mit der Ermordung von Osama Bin Laden in Pakistan, so Chomsky, bleibt auch die Obama-Regierung dem harten aussenpolitischen Kurs treu, den die USA seit der Kubakrise in den sechziger Jahren verfolgen. Bin Laden wurde gezielt getötet, obwohl er unbewaffnet war, und seine Leiche wurde ins Meer geworfen. Schon das Eindringen der US-Sondereinheiten auf pakistanisches Staatsgebiet, so argumentiert Chomsky, sei ein völkerrechtswidriger Akt gewesen. Die Ermordung von Bin Laden erinnere zudem an andere dunkle Kapitel der US-Aussenpolitik – etwa das blutige Vorgehen gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende 1973, am ersten symbolträchtigen 11. September der Moderne.

Früher, schreibt Chomsky, hätten noch andere Grundsätze gegolten. Bei der Befreiung Deutschlands von der Nazidiktatur etwa bestanden die USA auf einem völkerrechtlich korrekten, juristisch einwandfreien Verfahren mit Beweisführung, Verhandlung und Urteil. Damals hatte der für die Nürnberger Prozesse verantwortliche US-Richter Robert Jackson Aussagen getroffen, die Chomsky immer wieder zitiert. Darunter war der Satz, dass man nie vergessen dürfe, «dass uns die Geschichte morgen daran messen wird, wie wir mit diesen Angeklagten [die deutschen Kriegsverbrecher, Anm. d. Red.] umgehen».

Interviews nach 9/11

Im Falle von Bin Laden, so Chomsky, sei die Gelegenheit vertan worden, dessen Verantwortung für die 9/11-Anschläge öffentlich und nachvollziehbar zu beweisen. Bis heute haben die USA das nicht getan und damit allerhand Spekulationen zugelassen. Sie sind ihrem oft bekundeten Gerechtigkeitsanspruch nicht nachgekommen. Den für die Aburteilung von Kriegsverbrechern zuständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag haben die USA auch unter Barack Obama bisher nicht anerkannt.

Die USA seien selber in die Rolle des Terroristen geschlüpft. Diese These ist nicht neu. Chomsky hat sie in seinen Analysen der US-Aussenpolitik immer wieder aufgestellt und vielfach belegt. Und wie seine früheren Publikationen ist auch der Essay zu Bin Ladens Ermordung überaus faktenreich und sachlich geschrieben. Eine Lektüre lohnt sich also, zumal das Buch die Interviews enthält, die Chomsky in den Tagen und Monaten nach den Attentaten von 9/11 gab. Sie haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Chomsky schafft es also immer noch, die grossen weltpolitischen Leitlinien in einen verständlichen Gesamtzusammenhang zu stellen.

Noam Chomsky: 9/11. Was there an Alternative?. Seven Stories Press. New York 2011. 144 Seiten. Bisher ist die Neuauflage nur auf Englisch erschienen