Medientagebuch: Zweck und Mittel
Alfred Hackensberger über Informationen aus Syrien.
Über 5000 Tote, 100 000 Verhaftete und mehr als 20 000 Menschen, die in die Nachbarländer geflohen sind. So liest sich bisher die traurige Bilanz des syrischen Volksaufstands gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad, der im März 2011 begann. Zahlen, die man leicht mit ein paar Mausklicks im Internet findet oder durch die Berichterstattung von Tagespresse und Fernsehen geliefert bekommt.
Eins scheint klar: Wieder einmal versucht ein arabischer Diktator, Demokratie und Freiheit zu verhindern, und schreckt nicht davor zurück, sein eigenes Volk zu terrorisieren und abzuschlachten. Ein Bild, das gerade die Mainstreammedien kolportieren, allen voran die grossen internationalen TV-Nachrichtenkanäle von BBC, CNN oder al-Dschasira. Seit Beginn des Arabischen Frühlings im Dezember 2010 in Tunesien haben sie mit grosser Sympathie für die Protestierenden in allen betroffenen arabischen Ländern berichtet. Eine Sympathie, die ihnen bestimmt nicht zu verdenken ist, die aber wenig mit der Skepsis zu tun hat, der die Medien verpflichtet sein sollten.
Zur Erinnerung: In Libyen wurden die Anklagen des Nationalen Übergangsrats gegen Muammar al-Gaddafi in der Regel ohne jede Hinterfragung wiedergegeben. Vorwürfe, die sich im Nachhinein jedoch als falsch erwiesen: der Einsatz von afrikanischen Söldnern in Ostlibyen, die zusammen mit libyschen Soldaten Massenvergewaltigungen unter dem Einfluss von Viagra begingen, Luftangriffe auf die Städte der Rebellen und nicht zuletzt die Zahl von 6000 Toten, die es bei den ersten Protesten im Februar 2011 gegeben haben soll.
Wie kommt es zu solchen Falschmeldungen? Ein Beispiel: Al-Dschasira interviewt einen libyschen Arzt zu den Vergewaltigungen durch Gaddafi-Truppen, und dieser erzählt, was er selbst nur von anderen gehört hat. Das genügt dem Reporterteam. Auf Nachfrage hätte man zwar erfahren, dass der Arzt keine einzige Patientin behandelte, die vergewaltigt wurde. Aber Hauptsache, die Geschichte ist im Kasten.
Al-Dschasira aus Katar hat sich regelrecht zum Haussender des Arabischen Frühlings entwickelt. Doch mit der hier geforderten Freiheit und Demokratie will man zu Hause wenig zu tun haben. Im Golfemirat Katar wird das Internet gefiltert, die Presse zensiert, Wahlen gibt es nur auf lokaler Ebene, der Emir bestimmt Premierminister und Kabinett. Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sind von der Herrscherfamilie al-Thani dominiert, die ihren Reichtum immensen Gas- und Erdölvorkommen verdankt. Dieser Wohlstand erlaubt es der Familie, nicht nur einen internationalen Nachrichtensender zu unterhalten, sondern auch in den Arabischen Frühling zu investieren: In Tunesien, Libyen und Ägypten unterstützt man mit vielen Millionen islamistische Parteien.
Doch zurück zu Syrien: Kann es sein, dass auch hier – wie schon in Libyen – Zahlen und Fakten übertrieben oder ganz falsch sind? Schliesslich ist es die Opposition gegen das Regime, der Syrische Nationalrat (SNC), der täglich die Zahl der Todesopfer und der Verhafteten bekannt gibt. Bisher kann niemand wissen, wie akkurat die Angaben des SNC sind. «Letztendlich ist es nicht entscheidend, ob es 5000 oder 3500 Todesopfer sind», sagt ein Verantwortlicher einer bekannten Menschenrechtsorganisation. «Es gibt einen Schiessbefehl gegen friedliche Demonstranten, und Menschen sterben. Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und das darf man nicht tolerieren.»
Alfred Hackensberger schreibt für die WOZ aus Tanger.