«The lost Notebooks»: Vom Songfragment zum Song für Hank

Nr. 6 –

Elvis Presley, James Brown und Louis Armstrong haben Songs des Countrysängers Hank Williams gecovert. Nun hat Bob Dylan die «Lost Notebooks» aus Williams’ Nachlass in die Finger bekommen und einen der Songs zu Ende geschrieben. Norah Jones, Jack White und andere haben es ihm gleichgetan.

Vier kleine Notizbücher waren alles, was sich in der abgewetzten Ledermappe befand: So sah der gesamte geistige Nachlass aus, den der US-amerikanische Countrysänger Hank Williams hinterliess, als er an Silvester 1952 verstarb. In die Hefte hatte er Gedanken, Ideen für Lieder und halb fertige Texte gekritzelt. Auch fertige Songs waren darin zu finden, Lieder, denen nur noch eine griffige Melodie fehlte. Jetzt hat unter der Regie von Bob Dylan ein Dutzend Singer-SongwriterInnen die «Lost Notebooks» erneut durchgesehen, sich jeweils ein Textfragment ausgesucht und daraus einen Song gefertigt: ein Verfahren, das auch Williams praktiziert hatte. Immer wieder hatte er KollegInnen herangezogen, die ihm bei der Fertigstellung eines Werks helfen sollten.

Die posthume Kooperation von Hank Williams mit Leuten wie Bob Dylan, Norah Jones, Jack White (The White Stripes) und Sheryl Crow hat den vergilbten Seiten zwölf Songs entrissen. Die SängerInnen haben ihnen mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Musikalität so viel Leben eingehaucht, dass selbst der heilige Hank zufrieden gewesen wäre.

Notizbücher auf Irrwegen

Fast sechzig Jahre hatte die Odyssee der «Lost Notebooks» gedauert. Nach Williams’ Tod waren sie zuerst bei seinem Musikverlag Acuff-Rose gelandet und wurden weggeschlossen in einem feuersicheren Tresor. Als die Firma 1985 verkauft wurde, gingen die Hefte an den neuen Eigentümer über, der wiederum 2002 den gesamten Katalog an Sony veräusserte. Die Musikabteilung des Weltkonzerns beschloss, etwas mit den unveröffentlichten Songs zu machen, und trat mit Bob Dylan in Kontakt, der sofort Interesse signalisierte und einen ersten Song fertigstellte. Langsam kam der Ball ins Rollen.

Dabei half der Umstand, dass Williams bis heute nicht nur als einer der Säulenheiligen der Countrymusik gilt, sondern auch im alternativen Nashville-Untergrund und bei jungen Americana-MusikerInnen allerhöchsten Respekt geniesst. Auf Hank können sich alle einigen.

Das war schon zu Williams’ Lebzeiten so. Zu seinen Auftritten strömten Jung und Alt. Wenn Williams etwa mit dem «Louisiana Hayride», einer fahrenden Countrymusikrevue, in eine Stadt im US-amerikanischen Süden kam, geriet die Einwohnerschaft in Aufregung. Geschäfte räumten ihre Auslagen bereits am Nachmittag weg, und der Friseur schloss ein paar Stunden früher. Jeder eilte nach Hause, um sich fein zu machen für das Ereignis.

Am Tag zuvor hatten Lastwagen ein grosses Zelt in den Ort gebracht. Eine Lautsprecheranlage war aufgebaut und Stühle aufgereiht worden. So hat es Bill Malone Ende der vierziger Jahre in Tyler, Texas, erlebt. «Alle gingen hin – von den Kindern bis zu den Grosseltern. Holzpaletten wurden auf den Boden gelegt, damit die Kinder schlafen konnten, wenn sie müde wurden, bevor die Show zu Ende war», erinnert sich der heute emeritierte Professor für Countrymusik, der damals ein kleiner Junge war. Der Auftritt brannte sich in seine Erinnerung ein.

Williams’ Erfolgsgeheimnis lag in der Ernsthaftigkeit seiner Songs. Die Lieder kamen an, weil sich die Leute darin wiedererkannten. Enttäuschte Liebe, zerstobene Hoffnungen und andere Widrigkeiten, die das Leben so aufwirft, waren seine Themen, wobei aus jeder Note zu hören war, dass da einer aus Erfahrung sprach.

Eine schlimme Biografie musste sich Williams nicht erst andichten. 1923 in einer Kleinstadt in Alabama geboren, musste er schon früh zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Der Vater brachte kaum Geld heim, war meist arbeitslos oder krank. Zu allem Übel litt der junge Hiram (den Künstlernamen Hank legte er sich erst später zu) an einer Rückgratschwäche, die ihm zeitlebens Schmerzen bereitete.

Wenn er sich nicht als Erdnussverkäufer oder Schuhputzer verdingte, spielte der Teenager im Vorgarten Gitarre. Mit vierzehn hatte er seine erste Band beisammen, trat bei Grillfesten und Hauspartys auf. Bald war «The Singing Kid» im Lokalradio zu hören. In seiner Musik mischten sich die Hymnen der Baptistenkirche, wo er jeden Sonntag mit seiner Mutter im Gottesdienst sang, mit dem Blues seines schwarzen Mentors Rufus Payne. Den «Songster» hatte er beim Musizieren auf der Strasse getroffen, und er war ihm so hartnäckig gefolgt, bis der ihm ein paar Gitarrengriffe und Lieder beibrachte.

Neue Dämonen

Williams war labil. Er trank zu viel, war launisch und oft in Schlägereien verwickelt. Wenn er Geld hatte, haute er es in Spelunken auf den Kopf. Zeitweise war er so abgebrannt, dass er die Gitarre an den Nagel hängte, um als Werftarbeiter oder Schweisser ein Notbrot zu verdienen.

Mit dem Erfolg verschwanden die materiellen Sorgen. Doch andere Dämonen traten ans Licht. Das Rückenleiden verschlimmerte sich. Sein Alkoholkonsum geriet ausser Kontrolle. Wegen Gewaltausbrüchen gegenüber seiner Frau ging seine Ehe zu Bruch. Er war keine dreissig Jahre alt, als er 1952 ausgemergelt auf dem Rücksitz einer Limousine auf der Fahrt zu einem Auftritt an Herzversagen starb.

Seine Songs überdauerten die Zeit. Von Louis Armstrong bis Elvis Presley, von James Brown bis zu den Bee Gees – alle haben Williams’ Lieder gesungen. «Der Klang seiner Stimme ging mir durch Mark und Bein», beschreibt Bob Dylan seine Faszination. Er wählte den Text «The Love that Faded» aus «Lost Notebooks» aus und bastelte daraus einen Song, durch den man den Geist von Hank Williams wehen hört.

Bob Dylan, Norah Jones, 
Jack White und andere: 
«Hank Williams – The Lost Notebooks». Sony.

Hank Williams: «No 
More Darkness». Trikont/Musikvertrieb.