Serbien: Oh, unsere zwölf traurigen Jahre

Nr. 7 –

Belgrad will im Jahr 2020 Kulturhauptstadt Europas sein. Doch dafür sei das Klima noch lange nicht weltoffen genug, meint der Autor Vladimir Arsenijevic. Er beschreibt das am aktuellen Beispiel der Absetzung des Direktors der Nationalbibliothek.

Vor gut einem Jahr bewarb sich Belgrad als Kulturhauptstadt Europas 2020. Neben der Website (www.beograd2020.com), auf der sich die serbische Hauptstadt als moderne, dynamische und kosmopolitische Stadt präsentiert, wurden bis heute auch viele Anlässe im In- und Ausland abgehalten, um Belgrad dem schmeichelhaften Titel anzunähern.

In der Tat wäre das fantastisch für diese Stadt, die schon zu lange – zu Recht oder nicht – im schrecklichen Gefühl lebt, ununterbrochen gebremst, verunstaltet, entmutigt und immer wieder daran gehindert zu werden, die Flügel auszubreiten, um sich vor dem Rest der Welt im «richtigen Licht» zu zeigen.

Belgrad ist die europäische Hauptstadt der verpassten Chancen und schlecht genutzten Möglichkeiten. Eine Stadt, in der sich Kriege abwechseln mit Perioden des Umherirrens, Stolperns und blinden An-die-Wand-Schlagens. Gerade deshalb kam die Kandidatur im richtigen Moment: ein Jahrzehnt nach der Befreiung aus dem destruktiven Griff Slobodan Milosevics, mit dessen Fall die lange internationale Isolation Serbiens beendet wurde.

So ergäbe sich also die Gelegenheit, 2020 angemessen das zwanzigjährige Jubiläum dieses Ereignisses zu begehen: der Proteste des «Fünften Oktobers», die im Jahr 2000 Milosevic stürzten und die Voraussetzungen für eine erneute Öffnung Serbiens gegenüber der Region, Europa und der Welt schufen.

Doch reichen zwanzig Jahre, um aus dem Elend des Geistes herauszufinden? Zwölf Jahre sind vergangen seit jenem so leichtfertig verpassten Nullpunkt, den wir heute wehmütig oder verbittert den «Sechsten Oktober» nennen. Zwölf lange Jahre – und trotzdem ist Serbien heute eine verwirrte Republik mit einer Krone im Wappen und auf der Fahne: ein Land mit unrühmlicher Vergangenheit und unsauberem Gewissen, in ewigem Streit mit sich und seiner ganzen Umgebung.

Lethargie und Hysterie

Die serbische Gesellschaft schwankt deshalb unablässig zwischen Hysterie und Lethargie. Das Denken vieler BürgerInnen ist durch die kontinuierliche Einwirkung durch Politik, Medien, Schulwesen und Unterhaltungsindustrie längst schon verbrutzelt. Während sie gegenüber PolitikerInnen eine fast schon innige Hassliebe pflegen, widmen sie ihre tiefste Verachtung hauptsächlich unabhängigen öffentlichen Personen und Intellektuellen, die sie intuitiv als ihrem eigenen Wesen entgegengesetzt, also antiserbisch, erleben. Wer öffentlich auch nur ein wenig nuanciert unangenehme Wahrheiten durchdenkt in diesem Land, in dem Genozid ein verbotenes Wort ist, ausser wenn man ihn leugnet, hat keine Chance bei ihnen.

Diese antiintellektuelle Verachtung entlud sich in den Januartagen 2012. In einer kollektiven Hysterie, die PolitikerInnen und Medien ebenso erfasste wie den Chor der BürgerInnen, wurde der Leiter der Nationalbibliothek, der Schriftsteller Sreten Ugricic, im Eilverfahren von einem Gericht entlassen, das sich hier «Telefonsitzung der Regierung» nennt. Und dies, weil er als Person mit dem Recht auf eigene Meinung seine Unterschrift unter die Petition des «Forums der Schriftsteller» gesetzt hatte, das gegen die Polit- und Medienhetze gegen den montenegrinischen Schriftsteller Andrej Nikolaidis protestiert.

Nachdem schon Nikolaidis wegen seines Textes (veröffentlicht an drei Tagen auf drei Internetportalen unter drei Titeln) dämonisiert und der Anstiftung zum Terrorismus gegen die serbische Staatsspitze angeklagt worden war (vgl. «Poetische Gerechtigkeit»), wurde nun Ugricic wegen seiner Unterschrift desselben Vergehens beschuldigt. Polizeiminister Ivica Dacic, ehemaliger Mitarbeiter und Pressesprecher Milosevics, drohte dem Staatsangestellten Ugricic mit Gefängnis. Prompt war eine Kampagne gegen ihn organisiert, die die Belgrader Tageszeitung «Press» umsetzte. Abberufen wurde Ugricic in weniger als 24 Stunden nach dem «Verbrechen».

Zwanzig Jahre zurückgeworfen

Das Beschämendste in der ganzen Angelegenheit ist jedoch die Unterwürfigkeit, mit der sich viele BürgerInnen am kollektiven Wirbel beteiligt haben. Man hinterliess in Kommentarfeldern auf Portalen der grossen Medien und in Foren Pauschalverurteilungen und Unterstellungen – über den Text von Nikolaidis (den die meisten offensichtlich nicht gelesen hatten) wie auch über die Rolle von Ugricic.

Auf einmal fühlten sich in diesen Januartagen viele in Belgrad zurückgeworfen in jene blutrünstige Atmosphäre Anfang der neunziger Jahre. Doch nicht nur Nikolaidis und Ugricic wurden an den Medienpranger gestellt. In dieser glühenden Atmosphäre, wie sie schon lange nicht mehr um einen Text entbrannte, wurden auch viele Mitglieder des «Forums der Schriftsteller» und viele andere, die den Appell unterschrieben haben, verleumdet, beleidigt und angeklagt für alles Mögliche. Hervorgehoben wurden oft jene, deren Namen nichtserbisch klingen.

Und all das geschieht in einem Staat, dessen Hauptstadt daran arbeitet, Kulturhauptstadt Europas 2020 zu werden. In einem Staat, der sich am machtlosen Staatsangestellten Ugricic austobt und gleichzeitig mit allen Kräften einen anderen Angestellten schützt: keinen, der so idiotisch war, eine Petition zu unterschreiben, sondern Ljubisa Dikovic, den Leiter des Generalstabs, der für Kriegsverbrechen an albanischen ZivilistInnen im Kosovo Ende der neunziger Jahre angeklagt ist.

Noch ist nichts von all dem bewiesen. Doch allein die Tatsache, dass der ganze Staat so krampfhaft diesen General verteidigt, wirft grosse Zweifel an seiner Unschuld auf. Niemand ist im heutigen Serbien, das ist hier auch kleinen Kindern bekannt, so gut geschützt wie die Verbrecher.

Ist es also wirklich sinnvoll, dass Belgrad in nur acht Jahren Kulturhauptstadt Europas wird? Ist es dafür nicht doch zu früh? Als Belgrader schlage ich patriotisch vor, die Kandidatur zurückzuziehen. Um uns nicht zu blamieren. Dass wir ein wenig zuwarten. Einige Jahrzehnte, vielleicht auch ein Jahrhundert. So hätten wir etwas mehr Zeit, ernsthaft an uns selbst und an unserem Anstand arbeiten zu können – wenigstens ein wenig.

Übrigens: Auch «Belgrad Kulturhauptstadt Europas 3020» klingt nicht schlecht.

Aus dem Serbischen von Lejla Sukaj und 
Jan Dutoit.

Vladimir Arsenijevic

Der 1965 in Pula (heute Kroatien) geborene Schriftsteller ist einer der bedeutendsten serbischen Autoren der Gegenwart. 2009 erschien sein jüngster Roman, «Predator».

Der Fall Nikolaidis: «Poetische Gerechtigkeit»

Andrej Nikolaidis’ Text «Was von Grossserbien übrig ist» erschien als Kommentar zur am 9. Januar in Banja Luka abgehaltenen Feier zum zwanzigjährigen Bestehen der Republika Srpska (RS), eine der zwei Entitäten Bosnien-Herzegowinas. Dabei nahm der serbische Präsident Boris Tadic einen Orden der RS entgegen, den schon Karadzic und Mladic erhalten hatten, derweil der Patriarch der serbisch-orthodoxen Kirche die RS als «jüngsten serbischen Staat» bezeichnete. Für Aufregung sorgte auch ein Arsenal mit Sprengstoff, das am Vorabend in der Journalistenloge entdeckt wurde. Es stellte sich heraus, dass es von einem Mitarbeiter des Veranstaltungsorts schon mehrere Jahre dort gelagert wurde.

Nikolaidis, der die RS ein «auf dem Genozid errichtetes Gebäude» nennt, kritisiert in seinem Text die Politik Belgrads, die die Unabhängigkeit der RS legitimieren und jene Montenegros delegitimieren wolle. Die Hetze gegen Nikolaidis entzündete sich an seiner aus dem Kontext gerissenen Bemerkung, es hätte einen «zivilisatorischen Akt» und eine «poetische Gerechtigkeit» dargestellt, wenn der Arbeiter, dem das Waffenarsenal gehörte, ein Klassenbewusstsein entwickelt und die an der Feier anwesende Elite in die Luft gejagt hätte, da sie hinter den von ihnen geförderten nationalen und religiösen Konflikten nur den Klassengegensatz verstecke.

Im montenegrinischen Fernsehen erklärte Nikolaidis später, es sei ihm um eine Metapher dafür gegangen, dass es zu sozialen Unruhen kommen könnte, wenn die Eliten so weiterfahren würden. In vielen Medien wurde jedoch behauptet, er hätte ein Attentat auf die serbische Staatsspitze als zivilisatorischen Akt begrüsst. Da Nikolaidis den montenegrinischen Parlamentspräsidenten Ranko Krivokapic berät, ist auch dieser ins Kreuzfeuer geraten.

Jan Dutoit