Europapolitik: Plädoyer für einen EU-Beitritt
SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr fordert im neusten «Widerspruch» den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union. Leider bleibt er bei der Begründung dafür in konservativem Gedankengut stecken.
Kaum jemand will hierzulande noch über einen EU-Beitritt reden. Weder die Parteien noch die Medien. Dabei gibt es kaum eine Debatte, die dringlicher zu führen wäre.
SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr diagnostiziert im neusten «Widerspruch», die Souveränität der Schweiz werde mit jedem Tag etwas weiter ausgehöhlt. In wichtigen bilateralen Verträgen wie Schengen-Dublin, dem Güter- oder dem Luftverkehrsabkommen hat sich die Schweiz verpflichtet, in den entsprechenden Bereichen neues EU-Recht fortlaufend zu übernehmen – ohne darüber mitbestimmen zu können. Hinzu kommt der sogenannt autonome Nachvollzug: Die Schweiz übernimmt laufend EU-Recht, weil der Alleingang sie ins Abseits manövrieren würde.
Das Ergebnis: Sechzig Prozent des hiesigen Rechts wurden bereits vollständig oder in wichtigen Teilen an das europäische angeglichen, so eine Studie der Universität Bern.
Die nationalstaatliche Perspektive
Um mit der Situation klarzukommen, haben die politischen Parteien verschiedene Strategien entwickelt. Die SVP hat ein Geschäftsmodell daraus gemacht: Je lauter sie den Souveränitätsverlust beklagt, desto mehr WählerInnen laufen ihr zu. FDP und CVP scheint der Verlust egal zu sein, solange die Wirtschaftszahlen stimmen. Die eine Hälfte der Linken ist in einem meist unreflektierten Anti-EU-Reflex gefangen. Während die andere Hälfte schweigt, weil sie weiss, dass es nur einen Ausweg aus der Sackgasse gibt, mit dessen Propagierung jedoch keine Blumentöpfe zu gewinnen sind: den Beitritt zur EU.
Auf Blumentöpfe ist Altparteipräsident Fehr nicht mehr angewiesen. Seine Beitrittsforderung formuliert er diplomatisch so: «Die Diskussion über die Souveränitätsfrage muss über die Gegenpositionen nationale Selbstbestimmung versus internationale Fremdbestimmung hinaus erweitert werden.» Durch jene der «internationalen Mitbestimmung». Als EU-Mitglied sässe die Schweiz dort am Tisch, wo das für den eigenen Staat geltende Recht beschlossen werde. Auch die Gründung des Schweizer Bundesstaats, so Fehr, habe zu einer Souveränitätsverschiebung von den Kantonen zum Bund geführt. Dafür erhielten die Kantone eine Vertretung im Ständerat.
Hier bleibt Fehr in konservativem nationalstaatlichem Denken stecken: Reicht es wirklich, wenn die Schweizer Exekutive mit anderen Regierungen in Brüssel hinter verschlossenen Türen als legislative Gewalt agieren würde? Und: Welche Interessen würde sie vertreten? Jene der Banken? Der kantonalen Steuerparadiese? Durch diese Vertretung würde vielleicht ein Stück Souveränität gewahrt. Doch die Demokratie wird geopfert. BürgerInnen werden implizit aufgefordert, ihre politischen Überzeugungen fallen zu lassen und sich hinter die Nation zu stellen.
Die demokratische Perspektive
Aus einer demokratischen Perspektive besteht das Stossende an der hiesigen Übernahme von EU-Recht denn auch nicht im Verlust der Souveränität. Sondern im Verlust der Demokratie, in der schrittweisen Entmündigung der BürgerInnen. Darum ist ein EU-Beitritt notwendig: Damit würden die SchweizerInnen zu EU-BürgerInnen und damit Teil des europäischen Souveräns – vertreten durch das Europäische Parlament. Das hätte weitaus radikalere Konsequenzen. Als EU-BürgerInnen hätten SchweizerInnen nicht nationale Interessen zu vertreten, sondern ihre Überzeugungen – nötigenfalls auch gegen die Position der offiziellen Schweiz.
Doch das Sagen haben in der EU die Mitgliedsstaaten. Das Parlament besitze noch immer wenig Macht, wird auch in einigen Beiträgen des aktuellen «Widerspruchs» kritisiert. Das stimmt. Doch die einzige langfristige Alternative zur undemokratischen Übernahme von EU-Recht besteht darin, sich in der EU für ein demokratischeres Europa einzusetzen. Diese Perspektive lässt Fehr in seinem Beitrag vermissen.
In Bundesbern zeichnet sich ohnehin eine andere Richtung ab. Zwar hat der Bundesrat die Forderung aus Brüssel, die Schweiz müsse künftig in allen Bereichen der bilateralen Verträge automatisch EU-Recht übernehmen, zurückgewiesen. Doch am Ende wird sich der Bundesrat wohl irgendwie leise auf einen Kompromiss einigen. Der hiesigen Bevölkerung wird er diesen Kompromiss als Wahrung der Souveränität verkaufen. Und die Parteien werden schweigen.
Widerspruch Nr. 61. «Diktatur der Finanzmärkte. EU-Krise und Widerstand». Zürich 2012. www.widerspruch.ch. 216 Seiten. 25 Franken