Schweiz – EU: Zeit, neue Fragen zu stellen
Die Ventilklausel. Letzte Woche berief sich der Bundesrat darauf, um die Zuwanderung aus den osteuropäischen EU-Ländern zu beschränken. Sie wird kaum etwas bewirken, darüber ist man sich in Bundesbern einig. Die Arbeitskräfte werden auf andere Aufenthaltsbewilligungen setzen oder von anderswo herkommen. Doch es ging darum, mit dem Ventil Dampf abzulassen. Gegen die Zuwanderung. Und gegen die EU.
Diese macht Druck. Der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat letztmals Mitte März Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf die Leviten gelesen: Die Schweiz soll in den Bereichen der bilateralen Verträge automatisch EU-Recht übernehmen. Sowie ein übergeordnetes Gericht akzeptieren – für Fälle wie die Ventilklausel, deren Anwendung Brüssel als vertragswidrig kritisiert. Die Schweiz hat diese Forderungen wiederholt abgelehnt. Zu tief, so der Bundesrat, wären die Eingriffe in die Souveränität des Landes. Die Verhandlungen über neue Verträge stehen darum seit Jahren still.
Seit dieser Woche liegen nun wieder neue Pläne auf dem Tisch, die der Bundesrat der EU vorlegen will. Und wieder geht er darin lediglich in ganz kleinen, rhetorischen Schritten auf die EU zu. Brüssel wird sich damit kaum zufriedengeben. Doch selbst wenn – entscheidend ist: Die Aushöhlung der Souveränität der Schweiz wird der Bundesrat nicht verhindern. Daran wird auch eine noch so ausgeklügelte Regelung mit der EU nichts ändern: Die Schweiz übernimmt bereits seit Jahren laufend EU-Recht, um sich nicht ins Abseits zu manövrieren. Entweder im Rahmen der 120 bestehenden bilateralen Verträge oder sogenannt «autonom». Die Zwischenbilanz: Sechzig Prozent des Schweizer Rechts wurden bereits in wichtigen Teilen dem europäischen angeglichen. Daran ist nicht die EU schuld: Europas Politik wird zunehmend auf EU-Ebene entschieden. Und weil die Schweiz dort nicht mitmachen will, muss sie die Politik halt übernehmen.
Souveränität ist das eine. Doch das tatsächliche Problem ist: Damit wird gleichzeitig auch die Demokratie ausgehöhlt – die Schweizer BürgerInnen haben zum übernommenen Recht nichts zu sagen. Der Bundesrat sollte den Mut haben, den SchweizerInnen diese Wahrheit ins Gesicht zu sagen.
Derzeit wird die Demokratie auf dem Altar der Wirtschaft geopfert. Für die Banken versucht der Bundesrat das Bankgeheimnis zu retten, indem er mächtige EU-Staaten wie Deutschland mit Abgeltungssteuerabkommen zu ködern versucht. Sofern es aber im Interesse der Wirtschaft liegt, werden Verträge geschlossen und EU-Recht übernommen. Das wird diesmal nicht anders sein: Irgendwann wird der Bundesrat gegenüber der EU einlenken. Zugleich wird er gegenüber der Bevölkerung die Souveränität beschwören, die mit den bilateralen Regelungen angeblich gewahrt werden könne. Und um die Souveränität des Landes und jene der Bevölkerung unter Beweis zu stellen, wird wieder ab und zu irgendwo Dampf abgelassen.
Dass man die reine Symbolkraft der Ventilklausel auch noch unumwunden zugibt, ist eine Bankrotterklärung der Politik. Die SchweizerInnen werden für dumm verkauft.
Das ist im Kern rechtspopulistische Politik. Entworfen hat sie die SVP – FDP und CVP sind ihr gefolgt. Allerdings hat das Original seinen Vorteil behalten: Die SVP kann gegen die EU noch so grosses Geschütz auffahren – die Wirtschaftspartei kann sich sicher sein, dass die anderen Parteien die wichtigsten wirtschaftspolitischen EU-Vorlagen ins Trockene bringen; während FDP und CVP dabei wiederum die selbst gesäte Anti-EU-Stimmung ernten. Über die letzten Jahre hat sich hierzulande eine Wagenburgmentalität breitgemacht, die auch an SP und Grünen nicht spurlos vorbeigegangen ist. Aus ihrer Sicht stellt sich zudem die Frage: Betreibt die EU nicht tatsächlich eine wirtschaftsradikale Politik?
Vielleicht ist es Zeit, neue Fragen zu stellen: Betreibt die Schweiz nicht eine ähnliche Politik? Welchen Unterschied macht es, ausserhalb der EU zu stehen, wenn wir am Ende ihre Politik übernehmen? Gibt es nicht auch EU-BürgerInnen, die sich demokratisch für eine andere EU engagieren?
Und: Welchen Stellenwert hat die Demokratie für uns?