Medientagebuch: Neu-alte Kreml-Astrologie

Nr. 12 –

Roman Berger über Kritik an der Russland-Berichterstattung

Die Kollegenschelte ist hart: Die meisten KorrespondentInnen in Moskau würden Kreml-Astrologie alten Stils betreiben. Anstatt nach Krasnodar oder Wladiwostok zu gehen und dort zu leben, wo sie über ein ganz anderes Russland berichten könnten, begnügten sich die JournalistInnen in ihren Moskauer Büros mit dem Sammeln von Fakten und Zitaten, «zweitverwertet» aus russischen Medien, der Presse, Onlineausgaben oder Nachrichtenportalen. – Zu diesem Urteil gelangen Moritz Gathmann und Stefan Scholl, die als Freelancer für deutsche Medien über Russland berichten.

Gathmann und Scholl schrieben längere Zeit aus der russischen Provinz. Sie sind überzeugt, dass sie von dort über das Leben der Bevölkerung besser berichten konnten als die in Moskau stationierten Kollegen, «die gelegentlich einen Abstecher für eine fällige Reportage über Terrorismus und staatliche Repression im Nordkaukasus machen und dann nach Moskau zurückfliegen, wo sie für ein Abendessen mehr ausgeben, als ein Arbeiter oder Arzt in der Republik Cuvasija monatlich verdient».

«Diese Art von Berichterstattung», so der Befund der beiden, «liesse sich auch in einem mit Internet ausgestatteten Arbeitszimmer auf den Seychellen bewerkstelligen, aber doch zumindest an einem angenehmeren Ort als der russischen Hauptstadt.»

Das sei unfair und falsch, entgegnet der Auslandschef des «Spiegels», Christian Neef. Der langjährige Moskau-Korrespondent vermutet, die beiden Kritiker hätten ihre Korrespondententätigkeit nicht aus politischer Einsicht, sondern aus ökonomischen Gründen in die Provinz verlegt. Denn im teuren Moskau können heute nur noch festangestellte KorrespondentInnen grosser Redaktionen finanziell überleben.

Für die Berichterstattung ist laut Neef aber die Tatsache von grösserer Bedeutung, dass russische Politik wie zu Sowjetzeiten intransparent geblieben sei. So seien die Moskau-Korrespondenten monatelang gezwungen gewesen, sich mit den Spekulationen über das Tandem Medwedew–Putin zu beschäftigen. Nach der Logik von Gathmann und Scholl hätte der Ausweg darin bestanden, «sich am nächsten Bahnhof ein Ticket in die Provinz zu lösen und die Entscheidungen dort abzuwarten».

Zu behaupten, die KorrespondentInnen reisten nicht mehr aufs Land, sei «schlichter Unfug», entgegnet Christian Neef. Es vergehe kein Monat, ohne dass einer der «Spiegel»-Korrespondenten in die russische Provinz reise. Neef gibt allerdings zu, Moskau sei inzwischen die teuerste «Spiegel»-Vertretung im Ausland.

Die Debatte – sie ist in der Zeitschrift «Osteuropa» vom Oktober 2011 und vom Januar 2012 dokumentiert – könnte man vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Russland weiterführen. Die Korrespondenten haben über das unerwartete Phänomen der Massenproteste in Moskau ausführlich berichtet – oft zu begeistert. Denn nach den Wahlen mussten viele etwas ratlos zur Kenntnis nehmen, dass Putin trotz Manipulationen schon im ersten Wahlgang wiedergewählt worden war – und zwar von WählerInnen ausserhalb Moskaus, im Russland der Provinz.

Hinter Scholls und Gathmanns Plädoyer für eine andere Berichterstattung verbirgt sich noch eine andere Tatsache: «Freie» JournalistInnen sind heute der billige Ersatz für festangestellte AuslandkorrespondentInnen geworden, die sich die Chefs von Qualitätsmedien nicht mehr leisten wollen.

Roman Berger war 1991–2001 Moskau-Korrespondent des «Tages-Anzeigers».