Russland: Sieben magere Jahre

Nr. 42 –

Die Finanzkrise trifft das Land hart: ArbeiterInnen und Angestellte müssen mit Reallohneinbussen von dreissig Prozent und mit unbezahltem Zwangsurlaub rechnen.


Den Medien traut in Moskau dieser Tage niemand. Jeder, der so aussieht, als ob er die Wahrheit über die Finanzkrise weiss, wird dagegen ungeniert ausgefragt. «Was meinen Sie? Was kommt jetzt auf uns zu?», will die Garderobenfrau im Baltschug-Hotel wissen. Die Dame mittleren Alters mit den rosa geschminkten Wangen, die im Fünfsternehotel ein Monatsgehalt von 10 000 Rubel (430 Franken) verdient, hat ein kokettes Lächeln aufgesetzt. Der Gast soll sich wohl fühlen und reden. «Erst mal werden wohl die Löhne eingefroren, und dann gibt es Entlassungen. Das sagen zumindest die Experten», so die Antwort des Journalisten. Nun lächelt die rüstige Frau in ihrem blauen Kostüm verschmitzt: «Das haben wir uns schon gedacht», entgegnet sie und denkt wohl, dass JournalistInnen auch nicht klüger sind.

Für die russische Presse hat der Kreml Sprachregelungen herausgegeben. Wie Wladimir Warfolomejow, Sprecher beim regierungskritischen Radio Echo Moskwy, in seinem Blog berichtet, sollen JournalistInnen Worte wie «Finanzkrise» und «Kollaps» vermeiden. Das Wort «Fall» soll doch bitte durch das Wort «Rückgang» ersetzt werden. Auch UnternehmerInnen bitten um Zurückhaltung. Sergej Polonskij, einer der grossen Moskauer Bauunternehmer, bat die russischen JournalistInnen in einem Brief, nicht zu dramatisieren. Immerhin hingen vom Bausektor Hunderttausende von Arbeitsplätzen ab. Polonskij, der gerade den 360 Meter hohen Moskauer Föderationsturm bauen lässt, war einer der ersten russischen Unternehmer, die als Reaktion auf die Finanzkrise Konsequenzen ankündigten. Seine Mirax Group werde grosse Bauprojekte vorerst nicht weiterführen, verkündete Polonskij. Der Föderationsturm gilt als Symbol für das seit acht Jahren anhaltende Wirtschaftswachstum, das nun einen massiven Dämpfer bekommt.

«Psychotischer Aktienmarkt»

Die Aktienkurse fallen in Moskau bereits seit Frühjahr, doch zu ihrem massenweisen Einbrechen kam es wie anderswo erst in den letzten Wochen. Nachdem ausländische FondsmanagerInnen panikartig ihr Kapital aus Russland abgezogen hatten, verloren die Aktien an der Moskauer Börse bis Anfang Woche im Vergleich zum Mai 61 Prozent. Doch Russlands Finanzminister Alexej Kudrin demonstriert Zuversicht. «Die Aktien sind wesentlich unterbewertet», sagt er und schimpft: «Der Markt reagiert nicht mehr logisch, sondern psychotisch.» Die Wurzel der Krise, so hört man immer wieder in den russischen Fernsehnachrichten, liege in den USA. Russland selbst betreibe eine solide Finanzpolitik.

Betroffen vom Kurssturz sind alle: Flaggschiffe wie die Staatskonzerne Gasprom und Rosneft, Superreiche, aber auch UnternehmerInnen mit einem Vermögen unter einer Million Franken. Die kleinen und mittleren HändlerInnen trifft die Krise besonders hart. Sie haben zur Ausweitung ihrer Geschäfte grosse Kredite aufgenommen und verfügen über keine Sicherheiten in Form von Fabriken, wie dies bei Grossunternehmern der Fall ist. Nach dem Kurssturz an der russischen Börse verlangen die Banken von den Mittelständlern neue Garantien, die diese zum Teil nicht bieten können.

Auch viele Milliardäre mussten kräftig bluten: Die 25 reichsten Russen haben seit Mai 260 Milliarden Franken (62 Prozent) ihres Vermögens verloren, ermittelte die Wirtschaftsagentur Bloomberg. Einige mussten sogar ihre im Westen mühsam ergatterten Firmenanteile verkaufen. Oleg Deripaska, bisher der reichste Mann Russlands, veräusserte seine Anteile am deutschen Baukonzern Hochtief und am kanadischen Automobilzulieferer Magna. Noch grösser waren die Einbussen von Roman Abramowitsch, dem der Stahlkonzern Evraz und der Fussballklub Chelsey gehören. Er verlor bisher 23 Milliarden Franken. Den grössten Verlust fuhr sein Konkurrent Wladimir Lisin ein. Dem Mehrheitseigner von Novolipetsk Steel gingen 25 Milliarden Franken flöten.

Natürlich gibt es in der Krise auch Glücksritter. Zu ihnen gehört Michail Prochorow. Rechtzeitig vor dem Verfall der Nickelpreise im April verkaufte er seine Anteile bei Norilsk Nickel und erwarb für den Schnäppchenpreis von 567 Millionen Franken die Hälfte der Moskauer Investmentbank Renaissance Capital. Weil Prochorow eine neue Bankengruppe bilden will, kaufte er ausserdem noch die APR-Bank.

Bei den Moskauer Geldhäusern hat das grosse Aufräumen begonnen. Fünfzehn kleinere Geldinstitute sind ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen und könnten alsbald von Oligarchen und grossen Staatsunternehmen geschluckt werden. So wurde bereits die Investmentbank Kit Finance für den symbolischen Preis von hundert Rubel (rund vier Franken) an zwei Staatsmonopole, den Diamantenförderer Alrosa und die russische Eisenbahn RZD, verkauft. Aus Bankenkreisen ist zu hören, dass im Finanzsektor nun Personal abgebaut wird. Die Zahl der Anzeigen von arbeitssuchenden Bankangestellten auf der Website www.superjob.ru schnellte in der letzten Woche um sechzig Prozent in die Höhe.

Der Aktienhandel an den beiden Moskauer Börsen wird von der Börsenaufsicht immer wieder für Stunden und manchmal auch für Tage ausgesetzt. Damit versucht das Finanzministerium extreme Kursschwankungen zu verhindern. Die BörsenmaklerInnen ärgern sich über die massiven Staatseingriffe. Von freiem Wettbewerb könne keine Rede mehr sein, beklagen sie sich.

Pläuschchen mit der KP

Wegen der Krise rechnet Finanzminister Kudrin für das nächste Jahr mit einem Rückgang des Wirtschaftswachstums um knapp ein Prozent auf 5,7 Prozent. Doch diese Prognose scheint äusserst optimistisch. Was ist, wenn der Ölpreis weiter sinkt? Was, wenn auch die Wirtschaft Chinas ihren Abwärtstrend fortsetzt? China kauft grosse Mengen an russischem Gas und Öl. Während ein Barrel Öl im Juli noch 167 Franken kostete, ist es jetzt nur noch 93 Franken wert. Für den russischen Haushalt, der sich im Wesentlichen aus dem Export von Energieträgern speist, ist der aktuelle Ölpreis eine Katastrophe.

Letzte Woche, auf einer Konferenz von FinanzexpertInnen, bemühte Finanzminister Kudrin bereits das biblische Bild von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. Gegenüber der Öffentlichkeit vermeidet Kudrin jedoch derartige Katastrophenszenarien: «Falls es zwei Jahre dauert, haben wir genug Ressourcen. Wenn es fünf Jahre dauert, müssen wir sparen», versucht er zu beruhigen. Russland liegt mit seinen Devisenreserven von umgerechnet 619 Milliarden Franken weltweit immer noch an der Spitze.

Dennoch: Ministerpräsident Wladimir Putin stimmt die Bevölkerung bereits auf Sparmassnahmen ein. Bei einem Treffen mit der Parlamentsfraktion der Kommunistischen Partei KP - dem ersten Treffen seit acht Jahren - erklärte Putin: «Wir können nicht ständig die Sozialleistungen erhöhen, ohne über die Konsequenzen für den Haushalt nachzudenken.» Auf die von KP-Chef Gennadij Sjuganow vorgebrachte Kritik am Monetaristen Kudrin entgegnete Putin, unter seiner Regentschaft seien zahlreiche Sozialprogramme aufgegleist worden. Eine wirklich monetaristische Politik habe es in den letzten acht Jahren nicht mehr gegeben. Kudrin, eigentlich ein Liberaler, ist seit 2000 Finanzminister und war immer eine verlässliche Stütze für Putin. Dieser wird Kudrin nicht fallen lassen. Genauso wenig wie der Staat die Grossbanken: Zur Stützung des Finanzsystems machte die russische Regierung bereits 215 Milliarden Franken locker.

Millionen arbeitslose Illegale

Dass die Finanzkrise in Russland einschneidende soziale Auswirkungen haben wird, liegt für die ExpertInnen auf der Hand. Der Ökonom Michail Deljagin rechnet mit der Entlassung von fünf Millionen GastarbeiterInnen, die im Bausektor beschäftigt sind. Sie kommen vorwiegend aus Tadschikistan und Usbekistan und sind meist ohne offizielle Arbeitserlaubnis beschäftigt - was ihre Kündigung einfach macht (siehe WOZ Nr. 26/08). Die russischen ArbeiterInnen und Angestellten müssten zunächst nicht mit Entlassungen, sondern «nur» mit weiteren Reallohneinbussen von bis zu dreissig Prozent und mit verspäteten Lohnzahlungen rechnen, meint Wladimir Gimpelson vom Moskauer Zentrum für Arbeitswissenschaften. Der russische Unternehmerverband hat der Regierung bereits einen Krisenplan vorgelegt. Dieser fordert das Recht, MitarbeiterInnen für zwei Monate in den unbezahlten Zwangsurlaub zu schicken. Eine Praxis, die es bereits bei der letzten grossen Finanzkrise 1998 gab, als die Betriebe zahlungsunfähig waren und sich die «beurlaubten» MitarbeiterInnen monatelang mit anderen Jobs über Wasser halten mussten.

Soziale Proteste gibt es noch nicht. Einen Tag nach dem Treffen mit der KP verkündete Ministerpräsident Putin eine Staatsgarantie für Spareinlagen bis zu 30 000 Franken. Noch gut in Erinnerung sind dem Kreml die Proteste im Januar 2005, als im ganzen Land Zehntausende - unterstützt von der KP  - gegen die Abschaffung von sozialen Vergünstigungen für RentnerInnen, Schwerbehinderte und KriegsveteranInnen auf die Strasse gingen. Das Gespräch mit der KP-Fraktion diente Putin vor allem dazu, die KommunistInnen «einzubinden». Die KP ihrerseits hegt derzeit offenbar die Hoffnung, dass sie als politische Kraft in der jetzt aufkommenden sozialen Krise - mit dem Segen des Kremls - politisch zum Zug kommt: mit Vorschlägen, Konzepten und vielleicht sogar mit einem Minister aus den eigenen Reihen. Auch vom staatsnahen Gewerkschaftsdachverband FNPR muss der Kreml vorerst keine Proteste befürchten: Anstatt für sozialen Schutz zu streiten, kümmert sich dieser lieber um «Solidarität mit Südossetien».


Sprung nach Island

Bei all den Belastungen, die der russische Staat jetzt zur Stützung des heimischen Finanzsystems tragen muss, passt der angekündigte Kredit von sechs Millionen Franken für das in Not geratene Island nicht so recht ins Bild. In Moskau wird heftig spekuliert, was hinter dem Angebot steckt, denn russische Unternehmen besitzen keine grossen Beteiligungen in Island. Die Oligarchen Roman Abramowitsch und Oleg Deripaska hätten sich allerdings bereits mehrmals inoffiziell nach Investitionsmöglichkeiten auf der Insel erkundigt, berichtet die Moskauer Zeitung «Kommersant». Der Milliardär Alexander Lebedjew, der auch die Kreml-kritische Zeitung «Nowaja Gaseta» (siehe WOZ Nr. 36/08) finanziert, will nicht ausschliessen, dass hohe russische Staatsbeamte Gelder in Island «geparkt» haben.

Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass Russlands Kreditangebot mit den geopolitischen Interessen des Kreml zu tun hat. Für Moskaus Elite, die immer stärker auf die Anerkennung Russlands als Weltmacht pocht, muss es eine grosse Genugtuung sein, dass ein Gründungsmitglied der Nato nun in den russischen Einflussbereich kommt. Mit dem Islandkredit «stärkt Russland seine Position in der Welt», sagt der liberale Leiter der Höheren Schule für Ökonomie, Jewgenij Jasin.

Der stellvertretende Direktor des russischen Instituts für Ozeanologie, Leopold Lobkowskij, ist überzeugt, mit dem Kredit könne Russland ausserdem seine Position beim Kampf um die Einflusszonen am Nordpol verbessern. Am Nordpol werden reiche Vorkommen an Öl und Gas vermutet. Island gehört zwar nicht zur Gruppe der Nordpolanrainer (Russland, Kanada, USA, Dänemark und Norwegen). Das Land könnte aber wegen seiner geografischen Lage für Russland zu einem wichtigen Bündnispartner werden. Der Leiter des Instituts für die Probleme der Globalisierung, Michail Deljagin, kritisiert seinerseits den Islandkredit als unnötige Machtdemonstration. «Unsere Regierung versteht offenbar nicht die Tiefe der Krise», erklärte Deljagin gegenüber der «Nesawisimaja Gaseta». Mit dem Geld solle man besser der russischen Wirtschaft helfen.