Russland: Zwischen dem Alten und dem unordentlichen Neuen

Nr. 17 –

Die Massenproteste in ganz Russland sowie die Kontroversen um Präsident Wladimir Putins Wiederwahl im März zeigen, dass die Gesellschaft zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zutiefst polarisiert ist.

Das dramatische Naturschauspiel findet in diesen Wochen statt. Nach einer mehrmonatigen Eisstarre erwachen Russlands Flüsse und Ströme wieder zum Leben. Das durch die steigenden Temperaturen frei gewordene Eis führt auf den Flüssen zu Zusammenstössen und Stauungen, die Überschwemmungen und neue Eisbrüche auslösen.

Der russische Historiker Dmitri Lichatschow hat dieses Naturschauspiel mit der Geschichte seines Landes verglichen. Wie beim Eisgang in einem Fluss komme es in Russland immer wieder zu tiefen Brüchen und neuen Stauungen. Lichatschow erklärt dieses historische Phänomen so: «Es kommt zu raschen Wechseln, während zugleich der Konservativismus besteht. Es scheint gar, dass sich manchmal gewisse Wechsel innerhalb einer Generation in Russland in viel kürzerer Zeit vollziehen als im Westen. Das liegt nicht nur an einer gewissen Neigung zum Unordentlichen im russischen Leben, sondern auch daran, dass unwillkürlich etwas vom Alten, vom unguten Alten, bleibt, das seinerseits die Leidenschaft befeuert, sich rascher dem Neuen zuzuwenden.»

Der 1998 verstorbene Historiker bringt hier vieles auf den Punkt, was sich in Russland seit dem Ende der Sowjetunion zugetragen hat. Die Selbstauflösung der Sowjetunion war ein Eisbruch, der Bewegung und Hoffnung auf Neues auslöste. Doch dieses Neue kann nur das Resultat langer und schwieriger Übergangsprozesse sein: Das sowjetisch geprägte, imperiale Russland sollte sich zu einem demokratisch, marktwirtschaftlich organisierten Nationalstaat entwickeln. Kein Wunder, provozierte dieser vielschichtige Wandlungsprozess Gegenkräfte, Kräfte vom «unguten Alten». Der Eisbruch hat zu neuen Stauungen geführt.

Über Moskau hinausblicken

In den vergangenen Monaten hat in Russland ein neuer Bruch stattgefunden. Widersprüche, die lange unter der Oberfläche der russischen Gesellschaft gärten, sind plötzlich aufgebrochen. Die über 100 000 Menschen, die am 24. Dezember 2011 allein in Moskau gegen die Fälschungen bei den Parlamentswahlen protestierten, bildeten die grösste Demonstration gegen die Moskauer Führung seit Ende der Sowjetunion.

Allerdings ebbten die Strassenproteste nach der Präsidentschaftswahl vom 4. März wieder merklich ab. In Moskau haben zwar knapp 47 Prozent für Wladimir Putin gestimmt, das ist weit unter dem Landesdurchschnitt von 63 Prozent. Doch die Protestbewegung muss für sie unbequeme Tatsachen zur Kenntnis nehmen: Putin hat landesweit dreizehn Millionen mehr Stimmen erhalten als seine Partei bei der Parlamentswahl im Dezember. Und selbst wenn der Kreml bis zu zehn Prozent der Stimmen gefälscht haben sollte, der Sieger dieser Wahl heisst eindeutig Putin. Er wurde schon im ersten Wahlgang gewählt, und zwar von WählerInnen ausserhalb Moskaus, im Russland der Provinz. Wenn die Reformbewegung eine Zukunft haben will, muss sie also über Moskau hinausschauen und die Gesamtlage in Russland realistisch beurteilen.

«Die demokratische Opposition muss verstehen, dass sie eine Minderheit ist», gibt Alexei Grazhdankin vom unabhängigen Forschungszentrum Lewada zu bedenken. Das bestätigen auch Umfragen. Nur 28 Prozent der Bevölkerung teilen die Meinung der Protestbewegung, Russland müsse die Demokratie westlichen Stils übernehmen. Bemerkenswert ist, dass sich der Anteil der prowestlich gestimmten Bevölkerung seit 1996 nicht geändert hat. 27 Prozent der Bevölkerung sind anderseits überzeugt, das sowjetische System sei das Beste, was Russland je erfahren habe. 20 Prozent sind mit den politischen Verhältnissen, wie sie jetzt existieren, zufrieden. Und 17 Prozent wissen laut Grazhdankin nicht, was für Russland gut ist.

Die Provinz bleibt «zugefroren»

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Der «Eisbruch» hat nur in einem Teil der Bevölkerung stattgefunden. Diese ungleiche Entwicklung erklärt Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums: «Im Kern stehen wir vor einer Situation, in der die Provinz in einem Zustand des Verfalls ‹eingefroren› ist, während das Zentrum, also die Megalopolen und grossen Städte, eine rasante Entwicklung durchmacht.» In Russland gab es seit dem Ende der Sowjetunion eine Fehlentwicklung, deren Ergebnis gern mit einem Leopardenfell verglichen wird. Vom Wirtschaftswachstum, das durch den Öl- und Gasexport ermöglicht wurde, profitierten die «schwarzen Flecken» wie Moskau, Sankt Petersburg oder Jekaterinburg. Das übrige Russland ist zurückgeblieben.

Zu diesem Russland gehören die RentnerInnen, die vom Staatsbudget abhängigen Lehrerinnen und Ärzte, die Millionen Angestellten der Rüstungsindustrie, Soldaten und Offiziere, die sieben Millionen BeamtInnen der Polizei, Justiz und so weiter. Zusammen stellen sie rund sechzig Millionen Menschen oder mehr als 56 Prozent der insgesamt 108 Millionen WählerInnen. Dieser Klientel hat Putin massive Gehaltserhöhungen versprochen. Hinzu kommt, dass der Präsident bis 2020 die Riesensumme von umgerechnet fast 700 Milliarden Franken nur für die Rüstung ausgeben will. Dagegen fehlen die Mittel für die Modernisierung und Diversifizierung der Wirtschaft, für die Infrastruktur und die Forschung.

Entsprechend machen viele Menschen in Russland die Faust im Sack. Sie haben kaum eine andere Wahl. Jeden Abend hören sie am staatlich kontrollierten Fernsehen die gleiche Botschaft: Was wäre Russland ohne Putin, wie es die Opposition fordert? Wer käme an Putins Stelle an die Macht? Die PolittechnologInnen des Kremls wissen, wie ein grosser Teil der russischen Bevölkerung fühlt: «Lieber eine Meise in der Hand als einen Kranich in der Luft.»

Putins Mehrheit ist allerdings eine unsichere. Er kann nur so lange mit ihr rechnen, wie er sie mit Leistungen aus dem vorläufig noch vollen Staatssäckel bedienen und so ruhig halten kann. Aber schon jetzt ist absehbar, dass die Mittel fehlen, um diese konservative Klientel langfristig zu befriedigen. Bereits heute ist Russland auf einen Ölpreis von 150 US-Dollar pro Fass angewiesen, um ein ausgeglichenes Budget zu garantieren. Vor wenigen Jahren genügten dazu noch 75 US-Dollar. Russlands innere Stabilität ist vom internationalen Ölpreis abhängig, über den es keine Kontrolle hat.

Unterschiedliche Erwartungen

Die protestierende städtische Mittelschicht und das Wahlverhalten von Putins Klientel stehen für zwei verschiedene Russland mit unterschiedlichen Erwartungen und Wertesystemen. Die neue städtische Mittelschicht hat mehrheitlich einen Hochschulabschluss, verfügt über ein Monatseinkommen von mindestens tausend Dollar, besitzt eine eigene Wohnung und Erspartes, kauft bei Ikea ein, informiert sich über unabhängige Quellen aus dem Internet.

Mehr als siebzig Prozent der Bevölkerung leben aber weiterhin im anderen Russland: Ohne Ersparnisse oder Rücklagen überleben sie von einem Gehalt zum anderen, von einer Rentenzahlung zur nächsten. Mittel für die Verbesserung des eigenen Lebens oder Investitionen in die Zukunft, sei es zur medizinischen Versorgung der Familie oder zur Ausbildung der Kinder, fehlen.

Das Gros der Bevölkerung hat also keine Anreize, sich langfristig für die Gesellschaft zu engagieren oder soziale Systeme wie etwa eine Rentenkasse aufzubauen. Wegen des unterentwickelten Wohnungs- und Arbeitsmarkts ist zudem die Mobilität der Bevölkerung stark eingeschränkt. Kein Wunder, herrscht in diesem Teil der Bevölkerung eine Nostalgie für die Sowjetunion.

Zwischen diesen beiden Russland drohen Verteilungskämpfe und Konflikte. Wenn die Einnahmen aus dem Energieexport zur Sicherung der Stabilität der konservativen Klientel nicht mehr ausreichen, muss Putin die Steuern erhöhen, etwa die fixe Einkommenssteuer von zurzeit dreizehn Prozent. Dagegen werden sich die neue Mittelschicht und die kleinen und mittleren Unternehmen vehement zur Wehr setzen, die im staatlichen Umverteilungssystem mehr einzahlen, als sie erhalten.

Angst abbauen

Aber auch im «anderen» Russland ist die Unzufriedenheit programmiert. Schon jetzt übersteigen die Preissteigerungen die Rentenerhöhungen bei weitem. Das bekam Putins Partei Einiges Russland bei den Parlamentswahlen zu spüren. Sie verlor massiv WählerInnen, darunter viele RentnerInnen. Profitiert hat die Kommunistische Partei, die ihren Stimmenanteil fast verdoppeln konnte.

Der Kreml gerät von beiden Polen der Gesellschaft unter Druck: sowohl vom liberalen grossstädtischen Protest als auch von seiner eigenen Klientel. Putin selbst hat keinen Plan, wie er auf den Zerfall seiner Basis und auf ein Russland mit einer polarisierten Gesellschaft reagieren will.

Doch Putins Regime hat eine wichtige Verbündete: die Angst. Der Massenprotest in Moskau weckte im übrigen Russland Erinnerungen an den «Eisbruch» vor zwanzig Jahren, der Chaos ausgelöst und einen Grossteil der Bevölkerung in die Armut gestürzt hat. Das haben die Präsidentschaftswahlen klar gezeigt.

Die neue politische Opposition kann nur überleben, wenn es ihr gelingt, die Angst im Grossteil der Bevölkerung abzubauen. Sie muss die Menschen überzeugen, dass Politik kein Naturereignis ist, das die Menschen ohnmächtig über sich ergehen lassen müssen. Dass in Moskau kein Zar herrscht, dem das Volk auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Oder dass Putins «Vertikale der Macht», also die zentralistische Machtstruktur seiner Regierung, sehr wohl unterwandert werden kann. Allerdings nicht mit einem «Marsch auf den Kreml», wie einige Heisssporne der Protestbewegung glaubten.

Erst wenn das Gros der Bevölkerung erfährt, dass politische Beteiligung die eigenen Lebensverhältnisse verändern und verbessern kann – auf lokaler wie auf regionaler Ebene –, wird es in Russland zu einem Eisbruch kommen, der nicht mehr zu Chaos und neuen Stauungen führt. Darüber entscheidet auch die neue städtische Mittelschicht. Die Frage ist nur, ob sie über die notwendige Einsicht und vor allem über einen ausreichend langen Atem verfügt.

Russische Ausstellung

Kunst für Obdachlose

Die von der urbanen russischen Mittelschicht getragene Oppositionsbewegung möge dereinst auch die Lage der Ärmsten des Landes verbessern, hofft Grigori Swerdlin. Er ist Direktor der Petersburger Menschenrechtsorganisation Nochlezhka (Nachtasyl), die sich für die Belange der über 60 000  Obdachlosen in der Stadt einsetzt.

Einer der Gründe für die hohe Zahl der Obdachlosen ist die rigoros durchgesetzte Pflicht, dass sich alle StaatsbürgerInnen an ihrem Wohnort registrieren müssen – und jeder Wohnortwechsel bewilligungspflichtig ist. Ohne diese Registrierung verliert man den Anspruch etwa auf Sozialleistungen. Viele Bürger oder Zuwanderinnen, die keine Bewilligung erhalten oder sie sich nicht leisten können, werden so in die Illegalität, Obdach- und Rechtlosigkeit getrieben.

Eine Ausstellung im Philosophicum des Basler Ackermannshof zeigt noch bis 5. Mai 2012 eine Ausstellung zeitgenössischer russischer Kunstschaffender. Der Erlös aus dem Verkauf der Bilder geht zur Hälfte an Nochlezhka.

Im Rahmenprogramm der Ausstellung findet am 30. April 2012 in Zusammenarbeit mit der Zweigstelle Nochlezhka Suisse Solidaire ein Diskussionsabend mit den Moskau-Korrespondentinnen Ann-Dorit Boy und Anastasia Gorokhova sowie dem Publizisten und Polit-Aktivisten Wadim Chochrjakow statt, die über die Lage der Demokratiebewegung in Russland sprechen (vgl. Hausmitteilungen ).

Thomas Bürgisser

www.suissesolidaire.orgwww.philosophicum.ch