«Zwischen Stall und Hotel»: «Traurig ist das, ein leeres Haus»

Nr. 13 –

Mit Porträts von SilserInnen der älteren Generation vermittelt Daniela Kuhn ein Stück lebendige Lokalgeschichte – Oral History im besten Sinn, mitsamt Einblicken in die Auswirkungen des Oberengadiner Zweitwohnungsbaus.

«Im Margun, Post und Hotel Maria bi i allei unter Fremdi. Allei kann i s Bierli au dihei trinke»: Da ist Oscar Felix doch lieber ganz allein auf dem Silsersee. Foto: Meinrad Schade

«Wir leben alle vom Tourismus, aber der Tourismus macht vieles kaputt», sagt Ugo Bivetti, ehemaliger Skilehrer und Dachdecker, am Ende des Gesprächs mit Daniela Kuhn. Seine Vorfahren sind wie viele andere in den 1870er-Jahren aus dem Bergell ins Fextal eingewandert, und er versteht sich auch heute noch eher als Bergeller denn als Silser. «Ein Bergeller macht nie einen Schritt, der länger ist als sein Bein. Und das ist gut so.»

Fast zeitgleich mit den BergellerInnen kamen in den Sommermonaten die ersten TouristInnen ins Oberengadin. Die Anreise per Kutsche war damals lang und beschwerlich, viele Gäste blieben deshalb mehrere Wochen. Erst in den sechziger Jahren setzte mit dem Bau einer Seilbahn auf den Corvatsch, später auch bis Furtschellas, der Wintertourismus ein. Heute erinnern sich nur noch wenige, wie hart das Leben der Einheimischen im Oberengadin noch vor wenigen Jahrzehnten war.

Und immer wieder Polenta

Als Veranstalterin von Erzählcafés in Zürcher Altersheimen hat die Zürcher Journalistin Daniela Kuhn erfahren, wie gerne alte Menschen von früher erzählen – und wie wenig Gelegenheit sie normalerweise dazu haben. In den Gesprächen, die sie in Sils mit älteren Einheimischen führte, kommt nicht nur Persönliches zur Sprache, sondern auch die veränderten Lebensbedingungen, die die touristische Entwicklung mit sich brachte.

Den Auftakt macht der mit 94 Jahren älteste Silser Hans Rominger, der inzwischen verstorben ist. Sein Vater hatte in Crasta im Fextal eine Kutscherei geführt. Er transportierte mit seinem Pferdefuhrwerk nicht nur Baumaterial zum Hotel Waldhaus, sondern holte gelegentlich auch Gäste in Mailand, Zürich oder München ab. «Um zu überleben, war jeder Fexer Bauer. Wir hatten Geissen, Kühe und Schafe. Milch, Butter, Fleisch und Käse produzierten wir selber, meine Mutter backte das Brot im Ofen. Nur Kartoffeln und Mais kaufte sie. Oft gab es Polenta», erzählt er. Die Wäsche habe seinen Mutter am Herd gekocht und am Brunnen ausgewaschen, eine Arbeit, die oft bis in den späten Abend dauerte. Bis zu seinem Tod lebte Rominger, der als Schreiner und Skilehrer arbeitete, in einem grossen Haus mitten in Sils Maria, das er 1954 für 60 000  Franken gekauft hatte. Eine Zentralheizung gab es damals noch nicht. Die oberen Zimmer wurden an Gäste vermietet, unten richtete er eine Schreinerei ein.

Das Haus Rominger ist heute noch eines der wenigen, die im ursprünglichen Zustand erhalten geblieben sind. Viele Gebäude im Dorfkern wurden zu Ferienwohnungen umgebaut, so auch die benachbarte ehemalige Bäckerei Schulze, die im Dorfleben eine wichtige Rolle spielte. Als die Hausbesitzerin mit fast neunzig Jahren starb, verkaufte deren Tochter das Haus an einen Unterländer, der es für über zehn Millionen Franken renovieren liess und die Wohnungen teuer weiterverkaufte. «Seit dem Umbau ist kein Licht im Haus», erzählt Rominger. «Traurig ist das, ein leeres Haus.»

«Sils isch e guets Kaff»

«Eine Katastrophe!», entfährt es Adelina Kuhn, die sich lange Jahre im Gemeinderat engagierte, als Kuhn sie zur Bauerei in Sils befragt. «Es ist richtig, dass man auf den Zweitwohnungsbau den Finger draufhält», findet die Tochter eines Bauunternehmers – auch wenn Sils schon lange eine vergleichsweise restriktive Baupolitik betreibt. Bis 2010 führte Adelina Kuhn das Café Marmotta in Sils Baselgia, einen wichtigen Treffpunkt für die Einheimischen. «Sils isch e guets Kaff», findet sie, trotz allem.

Als einzige Bewohnerin lebt Tosca Nett ganzjährig in einem Haus im Quartier Seglias, einer Ansammlung von Ferienhäusern, die vor dreissig Jahren gebaut wurden. «Jetzt reicht es», findet auch sie und fügt an: «Es hat genügend Häuser, leerstehende.» 1965 hatte sie mit ihrem Mann die Pension Post von den Eltern übernommen; die Pension wird heute vom Sohn weitergeführt. Die Tochter lebt in Neuseeland, ein Enkel studiert Architektur in Tokio. Mit beiden steht sie mittels SMS in Kontakt.

Zwei Konstanten kristallisieren sich im Laufe der Gespräche als Folge der touristischen Entwicklung heraus: die Gefahr einer ungezügelten Bautätigkeit sowie der Verlust eines gemeinschaftlichen Dorflebens. «Im Margun, Post und Hotel Maria bi i allei unter Fremdi. Allei kann i s Bierli au dihei trinke», meint der 78-jährige Oscar Felix lakonisch.

In den Gesprächsaufzeichnungen wechselt Kuhn häufig die Perspektive. So wird die jeweilige Erzählstimme von Beschreibungen der heimischen Umgebung der GesprächspartnerInnen gerahmt, gelegentlich schaltet sich die Autorin mit Hintergrundinformationen ein. Und immer wieder lockern Originalzitate in Mundart den Erzählfluss auf. Unprätentiös wirken die Aufzeichnungen der Lebensgeschichten von fünfzehn SilserInnen; erst wenn man das in einer einfachen Sprache verfasste, von eindrücklichen Fotografien von Meinrad Schade begleitete Büchlein aus der Hand legt, realisiert man, wie viel man hier vom Oberengadin erfahren hat: Oral History im besten Sinn, ein lebendiges, von ZeitzeugInnen vermitteltes Stück Lokalgeschichte.

Buchpräsentation mit der Autorin und Oscar Felix aus Sils Baselgia in: 
Zürich, Sphères Buchhandlung und Bar, 
Montag, 2. April 2012, 20 Uhr.

Daniela Kuhn: Zwischen Stall und Hotel. 15 Lebensgeschichten aus Sils im Engadin. Limmat Verlag. Zürich 2011. 180 Seiten. 34 Franken