Selbstverwaltung in der «Perle du Lac»: Hummer und Hoffnung
Im Genfer Nobelrestaurant La Perle du Lac wirtschaften seit vier Monaten die MitarbeiterInnen selbst – und sind darüber glücklich. Allerdings hat die Stadt bereits einen neuen Pächter gesucht.
Wie eine Perle ruht das Restaurant im satten Grün des Parks. Der Blick geht über den Genfersee zum Jet d’eau, über die Stadt und zu den Savoyer Alpen. Hinten am Horizont verschwimmen die Viertausendergipfel des Mont Blanc im Dunst. «Glücklich, wer an diesen Ufern weilen kann», steht in alter Zierschrift gemalt auf der Holzfront des Restaurants La Perle du Lac. Diese noble Adresse haben vor vier Monaten die Angestellten übernommen.
«Wie es früher war? Kein Vergleich!», sagt Bekim Haziri. Er stammt aus dem Kosovo, ist Buchhalter und Präsident des gemeinnützigen Vereins Les Amis de la Perle du Lac. Der von den Angestellten gegründete Verein hat das Restaurant in Pacht übernommen und es so vor Konkurs und Schliessung gerettet. Ein Experiment, das seinesgleichen sucht: «Wir sind kein selbstverwalteter Erfrischungsstand, sondern ein mittelgrosser Dienstleistungsbetrieb mit höchsten Ansprüchen!», sagt Direktor Gérard Lamarche stolz.
«Business Lunch» für 62 Franken
Die «Perle du Lac», ein der Stadt Genf gehörendes Kleinod im Chaletstil der vorletzten Jahrhundertwende, wurde bis letzten Sommer von einem Pächter bewirtschaftet. Mehrmals musste die Gewerkschaft Unia wegen Kündigungsdrohungen gegen Angestellte intervenieren, schliesslich hinterliess der Pächter Mietschulden von einer halben Million Franken, worauf die Stadt das Restaurant Ende August überstürzt schloss. Die Angestellten wären auf Ende des Jahres arbeitslos geworden. Doch 12 der 23 MitarbeiterInnen – nicht jugendliche Hitzköpfe, sondern in Ehren ergraute, langjährige Angestellte – nahmen ihr Schicksal in die Hand und gründeten einen Verein zur provisorischen Übernahme des Restaurants. Die zuständige SP-Stadträtin, Sandrine Salerno, gab grünes Licht, im November wurde das Restaurant wieder geöffnet, als Kooperative, in Selbstverwaltung.
«Wie es heute ist? Das reine Glück», freut sich Bekim Haziri. Er ruft: «Garçon, einen Kaffee!», und lacht. Ein selbstbewusster Kellner zwinkert Haziri zu, er bringt den starken Ristretto und die Speisekarte. Es ist nicht einfach, sich zwischen Gänseleber mit Feigenchutney, Hummer à la Vinaigrette, Steinpilzen mit schwarzen Trüffeln, Risotto an Tintenfischtinte, einem gegrillten Fisch oder einem Lammfilet in Kräuterkruste zu entscheiden. Die Gäste des Restaurants kommen zu einem grossen Teil aus dem Uno-Quartier oberhalb des Parks oder aus den grossen Unternehmen im Quartier, mit ihnen ist nicht zu spassen – der «Business Lunch» kostet immerhin 62 Franken. «Wir schulden es unseren Gästen, die gleiche oder sogar die bessere Qualität anzubieten wie früher», sagt Lamarche, der einstige stellvertretende Direktor.
Und doch mache die Arbeit viel mehr Spass als früher, meint Haziri. Die Motivation sei grösser geworden, die Qualität der Arbeit besser. «Früher wurden wir paternalistisch geführt und hatten kein Wort zu melden, heute entscheiden wir als Kollektiv. Wir haben Entscheide getroffen, die längst überfällig waren.» Auch Lamarche sagt, fast ein bisschen erstaunt: «Wirklich, Selbstverwaltung ist gar nicht so schlecht.» Aber es sei eine Herausforderung, die mehr Verantwortung mit sich bringe und mehr Engagement fordere als alles, was er bisher erlebt habe. Er schätzt vor allem die Transparenz, die mit dem neuen Arbeitsmodell eingezogen sei, und es stört ihn gar nicht, dass er sich als Direktor jeden Monat von den Vereinsmitgliedern bestätigen lassen muss.
«Beweisen, dass wir besser sind»
«Wird die ‹Perle du Lac› bald zum Biwak?», schrieb Anfang letzten November Mauro Poggia, Nationalrat des grenzgängerfeindlichen MCG, polemisch. Der Tiefschlag gegen das Kollektiv, das den Betrieb im Restaurant aufnahm und die notwendigen Investitionen dazu aus eigener Tasche bezahlte, ist Lamarche in die Knochen gefahren. «Das Gaststättengewerbe ist traditionellerweise ultraliberal und individualistisch organisiert, wir müssen nun beweisen, dass wir als Kooperative nicht nur ebenso gut und ebenso rentabel sind, sondern sogar besser.» Weder die Stadt als Eigentümerin noch die Gewerkschaften würden ihnen Geschenke machen: «Wir müssen auch als Arbeitgeber exemplarisch sein.»
Etwa zwanzig Mitarbeitende sind von den Entscheiden des Vereins abhängig, in der Sommersaison werden es sogar dreissig sein. Das Team des Küchenchefs zog es vor, dem Verein nicht beizutreten, sodass jetzt die Vereinsmitglieder die «patrons» der anderen Angestellten sind. Der Verein stehe aber allen offen, die beitreten möchten, erklärt Haziri. Die Mitgliedschaft habe, vor allem zu Beginn, gewisse Risiken mit sich gebracht: «Zuerst wurden immer die Löhne der Angestellten bezahlt, unsere eigenen mussten warten.» Heute seien die Löhne à jour, auch die Vorschüsse der Vereinsmitglieder hätten zurückbezahlt werden können, und das Restaurant liefere regelmässig den Pachtzins an die Stadt ab. Die Zusammenarbeit mit einer aussenstehenden Organisation, die sich um die Integration Behinderter kümmert, läuft ebenfalls gut: In der «Perle» werden zurzeit zwei behinderte Personen ausgebildet, im Sommer werden es drei sein.
Ein Experiment auf Zeit
«Normalerweise macht man einen Plan, bevor man einen Betrieb übernimmt», sagt Lamarche. «Wir hatten nur die Wahl: Übernehmen wir die Schlüssel, oder übernehmen wir sie nicht?» Beraten wurden die Angestellten von der Gewerkschaft Unia. Sekretär Umberto Bandiera erklärt: «Wir kannten die Probleme des Betriebs unter dem früheren Geranten und hatten auch schon mehrfach Kontakt mit der Eigentümerin.» Dabei sei es der Unia zunächst darum gegangen, bei einem allfälligen Pächterwechsel die Rechte der Angestellten zu verteidigen. Doch schliesslich sei nur der Entscheid geblieben: Schliessung oder Übernahme als Kooperative. «Niemand hatte Erfahrungen mit Selbstverwaltung», sagt Bandiera. «Wir haben erklären können, wie es funktioniert und dass das Modell bereits mit Erfolg praktiziert wird, in Buenos Aires etwa, wo das Luxushotel Bauen vom Personal übernommen worden ist» (vgl. «Das selbstverwaltete Hotel» im Anschluss an diesen Text).
Für die Gewerkschaft stehe die Verteidigung der Arbeitsplätze im Zentrum, sagt Bandiera. Es gehe aber auch darum, vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise zu zeigen, dass es andere Auswege gebe als Abbau und Schliessung. «Wir sind überzeugt, dass die Demokratisierung eines Betriebs ein grosses, auch wirtschaftliches Potenzial hat.» Auch für Bekim ist die politische Dimension wichtig: «Wir zeigen, dass der Wert der Arbeit wichtiger ist als der Wert des Geldes.»
Und doch: Nicht alles ist so strahlend, wie es dieser warme Frühlingstag erwarten liesse. Die Stadt Genf plant seit langem eine Renovation des Gebäudes. Die Arbeiten beginnen noch dieses oder spätestens Anfang des nächsten Jahres. Schon im Mai läuft der provisorische Pachtvertrag mit der Kooperative aus, ab dann wird er, auf Zusehen hin, nur noch monatlich erneuert. SP-Stadträtin Sandrine Salerno weiss nicht, wann genau mit der Renovierung losgelegt wird: «Das Kreditbegehren ist noch nicht behandelt.» Sicher sei, dass das Restaurant während des Umbaus geschlossen werden müsse, und angesichts des Umfangs der anstehenden Arbeiten habe man es vorgezogen, schon im Voraus einen neuen Pächter zu suchen und ihn für die Planung des Umbaus beizuziehen. Salerno versichert: «Der neue Pächter hat sich verpflichtet, das bisherige Personal vollumfänglich zu übernehmen.» Damit scheint die Sache für die Stadt als Eigentümerin erledigt – auch wenn Salerno bestätigt, dass das Experiment «ein voller Erfolg» sei und das Team «ausgezeichnete Arbeit» leiste.
Doch was passiert mit Menschen, die sich an selbstbestimmtes Arbeiten gewöhnt haben, wenn die Hierarchien wiederhergestellt werden? Für Gérard Lamarche ist es Ehrensache zu beweisen, «dass unser Modell funktioniert». Er könne sich vorstellen, die neu erworbenen kollektiven Kompetenzen auch andernorts anzuwenden. Umberto Bandiera hofft, zumindest den sozialen Aspekt des Projekts, die Ausbildung für Behinderte, unter dem neuen Pächter weiterführen und möglichst weitgehende Mitspracherechte des Personals verankern zu können. Bekim Haziri jedoch hofft in einem Winkel seines Herzens, dass das letzte Wort zum Thema Selbstverwaltung noch nicht gesprochen ist: «Wir träumen davon weiterzumachen!»
«Glücklich, wer zu diesen Ufern zurückkehren kann, wenn er sie verlassen musste», heisst der zweite Teil der Inschrift auf den von der Sonne schwarz gebrannten Balken des Chalets.
Das selbstverwaltete Hotel
Das Beispiel der «Perle du Lac» ist zwar ausserordentlich, aber nicht einzigartig. Dies zeigt der engagierte Dokumentarfilm von Didier Zyserman, «Nosotros del Bauen», aus dem Jahr 2010. Es ist die Geschichte der Angestellten des Nobelhotels Bauen im Zentrum der Stadt Buenos Aires. Das Hotel wurde unter der Militärdiktatur erbaut und diente während 25 Jahren als Unterkunft für die argentinische Elite und reiche TouristInnen aus aller Welt. Nach dem Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft im Jahr 2001 gab es im Land eine Welle von Übernahmen von Unternehmen durch die Arbeitenden, im Jahr 2003 war die Reihe an den Angestellten des Hotels Bauen. Sie arbeiten heute als selbstverwaltetes Team und kämpfen gegen die früheren BesitzerInnen, die das Hotel wieder zurückhaben wollen. Welches Prinzip wird siegen: das Recht auf Arbeit oder das Recht auf Besitz?
Wirtschaft zum Glück
Seit März 2009 stellt die WOZ in ihrer Serie «Wirtschaft zum Glück» unterschiedliche nachhaltige Produktions- und Eigentumsformen, neue Ideen für eine alternative
Ökonomie und ökologisch sinnvolle Projekte vor. Finanziert wird diese Serie aus einem Legat des früheren nachhaltigen Wirtschaftsverbandes (WIV).