Massenentlassung bei Merck Serono: Rebellisch werden – auch in Genf

Nr. 19 –

Ging es der deutschen Firma Merck beim Kauf des Genfer Unternehmens Serono nur um die Patente? Dies wäre eine Erklärung für die geplante Schliessung von Merck Serono.

Er war jung, charmant, erfolgreich, ein richtiger «winner». Heute ist der Kurs des früheren Besitzers von Serono, Ernesto Bertarelli, an der Beliebtheitsbörse stark eingebrochen. Denn obwohl der deutsche Chemieriese Merck für die geplante Schliessung des Genfer Sitzes von Merck Serono verantwortlich ist, sind die Romands fast ebenso sauer auf Bertarelli.

2006 verkaufte Ernesto Bertarelli das Biotechnologieunternehmen Serono zu einem Spitzenpreis von 16,1 Milliarden Franken an Merck, die damit ihrer Chemiebranche einen Biotechzweig hinzufügen und den Sprung in die USA schaffen wollte. Merck hat beide Ziele erreicht, während die Rechnung für Serono nicht aufging: 1250 Arbeitsplätze, mehrere Hundert mehr, wenn man die mitbetroffenen Zulieferbetriebe und Temporärfirmen mitrechnet, werden in Genf gestrichen, wenn es nach den Plänen der deutschen Besitzer geht.

Gehätschelt und hochgejubelt

Serono, das von Behörden und (Steuer-)Politik gehätschelte Flaggschiff der Biotechnologie, war von den Medien während Jahrzehnten als Hightech-Zukunftsmodell hochgejubelt worden. 25 000 Menschen forschen und arbeiten heute am Genferseebogen im Bereich Biotech, die Schliessung von Merck Serono wäre ein Schlag für die ganze Branche. Entsprechend gross ist die Enttäuschung der Öffentlichkeit – und die Empörung der Angestellten. Waren es unmittelbar nach der Hiobsbotschaft noch 400 Angestellte, die zur allerersten Angestelltenversammlung der Betriebsgeschichte eintrafen, zählte die Gewerkschaft Unia letzten Freitag, an der zweiten Betriebsversammlung, bereits 645 Menschen.

Mehr als die Hälfte der Angestellten sind also entschlossen, es nicht beim blossen Protest bewenden zu lassen. Sie führen ab sofort jeden Morgen eine Versammlung vor dem Betrieb durch, entsenden eine Delegation nach Deutschland und rufen für Donnerstag, 10. Mai, zu einer Demonstration vor dem Genfer Grossrat auf. «Immer mehr von uns akzeptieren nicht mehr, dass ein Unternehmen, das 745 Millionen Franken Gewinn schreibt und die Dividenden um zwanzig Prozent erhöht, mit einem einzigen Strich unser Können und Wissen liquidiert», heisst es in der Protestnote. Die Angestellten sind überzeugt, «dass es Merck von Anfang an darum gegangen ist, die profitabelsten Patente von Serono an sich zu reissen und sich so bald als möglich von den Angestellten zu trennen». Unia-Gewerkschaftssekretär Alessandro Pelizzari nennt das eine «Piratenmethode», Merck habe sie schon früher in Frankreich angewendet.

Dieser Erklärung neigt unterdessen auch die Genfer Regierung zu. «Wir stellen uns seit Jahren Fragen, weshalb die Forschung so wenig diversifiziert worden ist», lässt sich der Genfer Regierungspräsident Pierre-François Unger in der Wochenzeitung «L’Hebdo» vernehmen. Neuerdings versichert er, er werde gemeinsam mit den Waadtländer Behörden alles unternehmen, um die Arbeitsplätze zu retten. Direkt nach Ankündigung der Massenentlassung hatten Genfs PolitikerInnen hilflos die Schultern gezuckt, wenn sie auf das Beispiel von Novartis Nyon angesprochen wurden, wo die Arbeitsplätze dank gemeinsamen Anstrengungen von Belegschaft und Politik gerettet worden sind. Der Fall Merck Serono sei nicht mit Novartis Nyon vergleichbar, hiess es, weil Novartis eine Schweizer Firma sei und ihre Produkte für den hiesigen Markt produziert würden, was den Basler Konzern gesprächsbereit gemacht habe, hiess es.

Einen Runden Tisch verlangt

Mehr als unglücklich war auch die Aussage von SP-Stadträtin Sandrine Salerno, die «cols blancs», die hochqualifizierten «Weisskragenangestellten» von Merck Serono, würden sicher schnell wieder eine Arbeit finden … Dies vor allem, weil die Gewerkschaften seit Jahren verlangen, Genfs Politik müsse für eine Diversifizierung des Genfer Arbeitsmarkts sorgen und kleine und mittlere Unternehmen unterstützen, anstatt Multis mit Steuergeschenken anzulocken und nicht einmal einen Gesamtarbeitsvertrag als Bedingung zu stellen.

«Mais le personnel se Rebif!» heisst der Slogan der Stunde. Rebif heisst das Spitzenprodukt von Serono, ein Multiple-Sklerose-Medikament, dessen Patent Merck übernommen hat. Und «se rebiffer» heisst auf Deutsch «rebellisch werden». Als Erstes verlangen die Angestellten Einblick in alle Unterlagen, das Recht ihrer neu gewählten VertreterInnen, sich während der Arbeitszeit im Betrieb zu versammeln und sich von der Gewerkschaft Unia beraten zu lassen. Merck Serono hat den Forderungen entsprochen. Die Firma hat sich auch bereit erklärt, falls nötig die Konsultationsperiode über den 16. Mai hinaus zu verlängern. Die Gewerkschaft Unia verlangt einen Runden Tisch mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann.

Derweil schlägt die Boulevardzeitung «Le Matin» ein Onlinespiel vor, bei dem man seinen Lohn in «Bertarelli-Einheiten» umrechnen und mit der Kapitalrente des Milliardärs vergleichen kann. Segler Bertarelli, der sich über die Schliessung seines von Grossvater Cesare Serono gegründeten Familienunternehmens «sehr betrübt» zeigte, weist ein Vermögen von 10,92 Milliarden Franken aus.

Und so rechnet «Le Matin»: Bei einem bescheidenen Zinssatz von 2,8 Prozent streicht Bertarelli mindestens 313 Millionen Franken pro Jahr ein. Was bedeutet, dass er in zwei Stunden so viel Gewinn macht, wie eine durchschnittliche Person in der Schweiz im Jahr 2010 verdient hat. Nämlich 71 748 Franken.